Tintorettos Engel

selbst geworden wäre. Wir schauten ihm zu, wie er lebte - das war alles.
    Als ich unter der Eiche mit dem Küken in der Hand auf ihn wartete und er auf mich zuwankte, sank er plötzlich auf der Wiese nieder. Von Krämpfen erfasst, zogen sich seine kleinen Muskeln zusammen. Er begann zu weinen und zu zittern und war nicht mehr zu beruhigen. An jenem Tag trank er ununterbrochen, bis seine Mutter ihm nichts mehr geben konnte. Marietta hatte sich keine Amme nehmen wollen, sondern stillte ihn selbst. Faustina meinte, dass dieser unstillbare Hunger vielleicht nur ein Zeichen dafür sei, ihn abzustillen. Aber das konnte nicht sein, das Kind weinte - es weinte unauf hörlich und war untröstlich. Dann bekam er wieder diese Krämpfe, bis er schließlich anfing zu verbluten - er verlor Blut aus der Nase, dem Mund und selbst im Stuhl.
    Carpenedo ist ein kleiner Flecken auf dem flachen Land, der aus wenigen, verstreut liegenden Höfen besteht: Bauern, ein paar Hirten, Landwirte, die für die Besitzer der herrschaftlichen Villen
aus der Umgebung arbeiten, und Arbeiter aus der Spinnerei. Ein Arzt wohnte hier allerdings nicht: Wir trafen lediglich einen aus Vicenza an, der in der Villa der Morosini zu Gast war. Er hob zu einer langen, komplizierten Rede an. Aristoteles würde in den Problemen behaupten, dass Krämpfe bei Kindern mit der Mondtätigkeit zu tun hätten, Platon wiederum schreibe in Timaios , dass in dieser minderwertigen Welt nichts ohne eine Ursache entstehe und nichts ohne göttlichen Grund werde. Oder aber, dass man dem von oben Beschiedenen nicht entgehen könne und dass diese Macht von den Naturphilosophen und Doktoren göttliches Schicksal genannt werde.«Was hat mein kleiner Junge?», unterbrach ihn Marietta verzweifelt. Nun, letztendlich folgerte der Arzt, dass Jacometto Würmer habe.
    Was diese Würmer genau sein sollen, entzieht sich meiner Kenntnis - schwer zu sagen, ob sie sich tatsächlich im Darm von Kindern festsetzen, wo sie sich so lange vermehren und ausbreiten, bis sie sie zerstört haben, oder ob es sich eher um eine konkrete Metapher für ein unsichtbares Leiden handelt. In Venedig habe ich auf jeden Fall Dutzende Kinder an Würmern sterben sehen. So wie eine Entbindung für Frauen und Herznot für uns Männer, sind Würmer für Kinder ihr mörderisches Schicksal. Im Fall von Jacometto sah jedoch der Arzt aus Vicenza keinen Grund zur Sorge. Die heilige Kirche lehre uns ja außerdem, dass die Sterne uns beeinflussen, wenn auch nicht bestimmen würden, und die Planeten stünden momentan gut für das Kind: Wir hätten gerade abnehmenden Mond. Er empfahl uns Umschläge mit Zitwerblüten, die austrocknend wirkten, und mit Kampfer, der den Körper erfrische und schütze. Auch der Strauchgamander sei bei Entzündungen der Darmschleimhaut und analem Juckreiz eine nützliche Pflanze. Augenblicklich brach der Juwelier nach Venedig auf - ich erinnere mich noch gut an das auf und ab tanzende Laternenlicht, als die Kutsche über den holprigen Weg hinter der Kurve im Dunkeln verschwand. Am darauffolgenden Tag kam er
mit Dominico und einer Truhe voll Arzneimittel zurück. Obwohl wir den Anweisungen mit äußerster Gewissenhaftigkeit folgten, brachten die Heilkräuter keine Erleichterung. Jacometto hörte nicht auf zu bluten und zu weinen.
    Der kleine Junge durchlitt grausamste Schmerzen, die wir nicht zu lindern vermochten. Zehn Tage lang weinte er ununterbrochen. Noch heute habe ich sein Weinen im Ohr - eine Bitte, die du nicht erhört hast. Und wenn du ihn nicht erhört hast, Herr, wirst du auch mich nicht erhören. Jacometto konnte sich nicht wehren, wie ein Lamm hast du ihn geopfert. Er war erst elf Monate alt. Vollkommen unschuldig. In all den Jahren, Herr, habe ich die vorgegebene Ordnung der Dinge nie akzeptieren können, allenfalls habe ich mich daran gewöhnt, den Sinn der Welt zu akzeptieren. Erst allmählich söhnte ich mich mit dem sogenannten Schicksal aus. Ich fand eine mögliche Antwort auf Hungersnöte, auf Kriege, obschon sie beinahe mein Land zerstört haben, auf Gewalt, Dummheit und Pest. Selbst auf den Tod meines kleinen Jungen: Als hättest du Ottavio zu dir genommen, um den anderen acht Kindern ein gutes Gedeihen und mir die Einsicht in meine dir gegenüber zu erfüllenden Pflichten zu ermöglichen. Auch der Tod von Cornelia und Andriana, Giovanni und sogar Marietta könnte am Ende nicht grundlos gewesen sein und einen Zweck in der unergründlichen Logik der Vorsehung haben. Jacomettos Tod