Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
weiter als ein paar Schritte: Vielleicht spürte er die Feindseligkeit der Welt. Er hatte Angst im Dunkeln, vor Hunden, Blitz und Donner, vor Fremden und mitunter auch vor seinem Vater. Mir gegenüber zeigte er sich dagegen immer zutraulich. Was mir meine Ohnmacht allerdings nicht sonderlich versüßt hat. Er mochte alles, was glitzerte - den Schmuck der Mutter, die hellen Sonnenflecken an der Zimmerwand sowie das sich spiegelnde Licht im Brunnenwasser. Am liebsten aber spielte er mit Mariettas Perlenkette. Stundenlang konnte er an ihr herumlutschen. Bis er sie eines Tages bei einem Krampfanfall zerriss. Einige Perlen, die auf den Boden gerollt waren, haben wir nie wieder gefunden.
    Jacometto hatte eine schwache Gesundheit. Im Verlauf von Herbst und Winter bekam er häufig Fieber. Venedigs Klima war zu rau für ihn. Zu sich nach Hause zurück wollte Marietta nicht. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Dienstmädchen, diese Maddalena, ihr nichts Gutes wolle und ihrem Kleinen den Tod wünsche. Dass sie ihn regelrecht krank mache. Sie erzählte von absurden, grausamen Dingen. Maddalena habe ihm geschadet. Sie habe ihn verzaubert und den Hexen zum Fraß vorgeworfen. Am liebsten wollte Marietta die Flüche von einem Priester, einer Wunderheilerin oder sonst wem bannen lassen. Sie hängte ihm ein Amulett um, eine Papierrolle mit unverständlicher Schrift, ein Kästchen voll Pulver und ein Kreuz. Ende April überredete ich sie, mit ihm aufs Land zu fahren. Ich begleitete sie.

    In Venedig hielt mich nichts mehr. Nachdem der Auftrag in der Rochusbruderschaft beendet und sogar das Paradies für den Dogenpalast abgegeben war, fand ich nichts Anregendes mehr zu malen - mir war, als hätte ich schon alles getan. Ich gab nur noch ab und zu in der Werkstatt Ratschläge, vertraute aber meinen Namen Dominico an. Ich glaubte sogar, nie wieder irgendetwas malen zu können - eine ganze Phase meines Lebens hielt ich für abgeschlossen. Trübselig machte mich das allerdings nicht. Vor mir lag etwas, das ich mir noch nie erlaubt hatte. Und das wollte ich mir endlich gönnen. Faustina meinte damals, dass die Beschäftigung mit meinem Enkel den Faden meiner Zeit zurückspulen und mir das zurückgeben würde, was ich versäumt hätte - meine Jugend. Daher würde ich meinen Enkel mehr lieben als ich je meine Kinder geliebt hätte, und ich sei außerordentlich glücklich. Aber ich widersprach ihr. Denn darum ging es gar nicht. Vielmehr war es so, dass diese Phase die Vollendung meines Daseins war. Als wäre am Ende alles völlig belanglos geworden - abgesehen vom Wesentlichen. Von dem, das allein Bedeutung besitzt und Bedeutung verleiht , allem und jederzeit. Ohne Malerei und ohne Leidenschaft, auf die ich verzichtete, wurde ich zu dem, der ich wahrhaft bin: ein entwaffnetes und entblößtes Ich, wehrlos, aber wie das Kind meiner Tochter der Glückseligkeit zugewandt.
    Samstagnachmittags reiste der Juwelier mit der Kutsche an und fuhr montags früh im Morgengrauen wieder ab. Von der Familie hatten wir ihn bereits ausgeschlossen. Er versuchte, mit Jacometto zu spielen, stellte sich jedoch ziemlich ungeschickt an, so vollkommen fremd war ihm die Welt der Kinder. Er traf weder den richtigen Ton, noch wusste er, wie er ihn in den Arm nehmen konnte, sodass er ihn manchmal sogar erschreckte, wenn auch ohne Absicht. Während ich Marco Augusta zusah, wie er die Aufmerksamkeit des kleinen Jungen auf sich lenken wollte, indem er eine Silberkette vor seinem Gesicht hin und her baumeln ließ,
fragte ich mich, ob ich auch so ein Vater gewesen bin - ob ich überhaupt einer war.
    Auf dem Land blühte Jacometto wieder auf und entwickelte sich zu einem pausbäckigen kleinen Jungen. Wir spazierten mit ihm durch die Weinberge, zeigten ihm den Hühnerstall und spielten mit den Kaninchen der Pächter. Von der Sonne bekam er goldglänzende Haut. In jenem Frühling und Sommer nahmen weder Marietta noch ich einen Pinsel in die Hand. Ich hätte ihn zwar liebend gern gemalt. Alle meinen, ich hätte ein gutes Händchen für Kinder gehabt, ich hätte ihren ernsten Ausdruck und ihre Anmut, ihre Leichtigkeit und ihre geheimnisvolle Art einzufangen vermocht. Ich wollte Jacometto jedoch erst dann malen, wenn seine Gesichtszüge unverwechselbar und unveränderlich geworden wären, wenn er nicht mehr wie tausend andere Säuglinge ausgesehen hätte, wenn keine Spuren sämtlicher vorangehender Generationen mehr auf seinem Gesicht aufgeleuchtet hätten und er allmählich er

Weitere Kostenlose Bücher