Titan 08
Grundschule war Tod.
Jestocost überblickte die Menschenmasse und überlegte: Wenn dieses Volk überleben will, muß es den höchsten Ansprüchen genügen, aber wir geben ihm dafür nur den geringsten Anreiz, nämlich das Leben selbst, als die Bedingung des absoluten Fortschritts. Was für Narren sind wir doch, wenn wir glauben, daß sie uns nicht überflügeln werden!
Die wahren Menschen, die sich hier befanden, schienen nicht so wie er zu denken. Obwohl dies ein Begräbnis der Untermenschen war, schlugen sie dann und wann mit ihren Stöcken auf sie ein, und die Bärenmenschen, Stiermenschen, Katzenmenschen und all die anderen wichen augenblicklich devot winselnd und Entschuldigungen murmelnd zur Seite.
K’mell stand nahe dem eisigen Sarg ihres Vaters.
Weil sie so schön war, daß er die Augen nicht von ihr lassen konnte, beobachtete Jestocost sie nicht nur, sondern unternahm etwas, das für einen normalen Bürger eine Unanständigkeit, aber für einen Herren der Instrumentalität ein gesetzmäßiges Recht darstellte: er belauschte ihren Geist.
Und dann fand er etwas, das er nicht erwartet hatte.
Als der Sarg abhob, schrie sie: »Ee-telly-kelly, hilf mir! Hilf mir!«
K’mell dachte nur und schrieb es nicht nieder, so daß er nur den ungefähren Laut verstand.
Jestocost war nicht von ungefähr ein Herr der Instrumentalität. Sein Verstand war schnell, zu schnell, um wirklich intelligent zu sein. Er dachte nicht logisch, sondern gefühlsmäßig. Und er beschloß, dem Mädchen seine Freundschaft aufzuzwingen.
Er entschied sich dafür, einen geeigneten Augenblick abzuwarten, aber dann überlegte er es sich anders.
Als sie von dem Begräbnis nach Hause zurückkehrte, drang er in den Kreis ihrer grimmgesichtigen Freunde ein, Untermenschen, die versuchten, sie von den Kondolenzszenen der sich schlecht benehmenden, aber es gut meinenden Sportenthusiasten abzuschirmen.
Sie erkannte ihn und erwies ihm die gebührende Achtung.
»Mein Lord, ich erwartete nicht, Euch hier zu sehen. Ihr kanntet meinen Vater?«
Er nickte feierlich und versicherte sie in klangvollen Worten seines Mitleids und seiner Trauer, Worte, die ihm von Untermenschen und Menschen zugleich ein Gemurmel der Anerkennung einbrachten.
Aber mit der linken Hand, die er entspannt hängen ließ, gab er gleichzeitig das verewigte Zeichen des Alarms, das von dem Verwaltungsstab von Erdhafen benutzt wurde, wenn eine Überwachung angeordnet und dabei die Besucher von Erdhafen nicht beunruhigt werden sollten: ein mehrmaliges Drücken des Daumens gegen den dritten Finger.
Sie war so aufgeregt, daß sie beinahe alles verdarb. Während er noch fromm auf sie einredete, schrie sie mit lauter, klarer Stimme: »Meint Ihr mich?«
Und er fuhr fort mit seinen Beileidsbekundungen: »… ja, ich meine wirklich dich. K’mell, du trägst den Namen deines Vaters mit aller ihm gebührenden Ehre. Du bist diejenige, der wir alle uns in Trauer zuwenden. Wen könnte ich meinen, wenn nicht dich, wenn ich sage, daß K’mackintosh eine Arbeit nie nur halb erledigt hat und jung verstarb wegen seines innigen Gewissens? Auf Wiedersehen, K’mell, ich kehre in mein Büro zurück.«
Vierzig Minuten nach ihm kam auch sie.
2
Er blickte sie direkt an, studierte ihr Gesicht.
»Das ist ein wichtiger Tag in deinem Leben.«
»Ja, mein Lord, ein trauriger.«
»Ich meine nicht den Tod und das Begräbnis deines Vaters«, sagte er. »Ich spreche von der Zukunft, für die wir alle leben. Gerade jetzt wir beide, du und ich.«
Ihre Augen weiteten sich in Erstaunen. Sie hatte nicht gedacht, daß er ein so freundlicher Mensch sein könnte. Er war ein Regierungsmitglied, das sich in Erdhafen frei bewegte, oftmals wichtige Besucher von den Außenwelten begrüßte und ein Auge auf die Einhaltung der Zeremonien hielt. Sie gehörte zur Begrüßungsmannschaft, ein Girly-Girl, das eingesetzt wurde, um frustrierte Neuankömmlinge zu beruhigen oder Streithähne zu besänftigen. Wie der einer Geisha des Alten Japans war ihr Beruf sehr ehrenwert; sie war kein billiges Flittchen, sondern eine Hosteß, die berufsmäßig und mit Niveau flirtete.
Sie starrte Lord Jestocost an. Er sah nicht aus, als ob er irgend etwas Unanständiges vorbringen wollte. Aber bei Männern kann man nie sichergehen, dachte sie.
»Du kennst dich bei Männern aus«, sagte er und überließ ihr die Initiative.
»Ja, ich glaube schon«, sagte sie zögernd. Ihr Gesichtsausdruck war verblüfft. Sie schenkte ihm ein
Weitere Kostenlose Bücher