Titan 17
in seine Fußstapfen treten, in die Fußstapfen eines Mannes, der zivilisierter und humaner war als jeder andere.
Er war ein kleiner, unauffälliger Mann mit klassischem griechischem Profil, sehr geringer körperlicher Kraft und erstaunlicher Zähigkeit.
Es schien ihm nichts auszumachen, Tage und Nächte hintereinander und ohne Pause im Labor zu arbeiten. Wenn ich hier die seltene Kombination von mathematischem Genie und experimenteller Phantasie dieses Mannes preise, würde ich nur meine Zeit verschwenden. Aber die Welt weiß so wenig über die menschlichen Qualitäten dieses Menschen. Er war ein Künstler, ein Poet, der die Schönheit des Kosmos mit bewundernden Augen ansah. Berichte über Hungersnöte in China störten ihn bei seinen Experimenten. Einmal mußten seine Studienassistenten eine regelrechte Verschwörung bilden, um ihn vor den Besuchen eines alten Captains der Heilsarmee zu schützen, der immer wieder an seinen Tisch geschlurft kam, um ihm Geschichten über seine Frau oder irgendein Kind im Unglück zu erzählen. Er war der letzte Mensch, dem man es hätte gestatten dürfen, dem Bösen ins Auge zu blicken.
Vor etwa zwei Jahren planten wir zusammen eine Demonstration vor seiner Klasse. Wir hatten beschlossen, Modelle von Festkörpern anzufertigen, die die Arbeitsweise einiger seiner Gleichungen besonders anschaulich verdeutlichen sollten. Aber die Zeit und der Arbeitsaufwand, der dafür nötig gewesen wäre, hätten in keinem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis gestanden. Da erinnerte ich mich daran, daß die mathematische Fakultät der Chicagoer Universität bereits einmal ein solches Modell angefertigt hatte. Wir lösten das Problem, indem wir nach Chicago gingen und das Modell mit einer Stereokamera fotografierten. Die Aufnahme dieses seltsam geformten Körpers, eingefangen in einem Hologramm mit Tiefenwirkung, war für unsere Zwecke mehr als ausreichend.
Ich brachte Cosgrave die Aufnahmen zur Ansicht. Er blätterte sie durch und schien sehr zufrieden zu sein. Plötzlich legte er sie beiseite und sah mich an.
»Wissen Sie, was mir gerade eingefallen ist?« sagte er in aufgeregtem Tonfall.
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, woran ich gerade arbeite?«
»Sie meinen die Ausdehnungsgleichungen?«
»Populär ausgedrückt, würde man wohl vierte Dimension sagen.« Er lächelte bei dem Gedanken. »Und Sie wissen, was ich zu vermuten beginne – besonders jetzt, nach den Experimenten mit dem Kreisel?«
»Ja… doch. Aber es fällt mir schwer, zu glauben, daß es so etwas wie die vierte Dimension wirklich geben soll. Ich habe immer geglaubt, daß die vierte Dimension nichts als eine mathematische Abstraktion ist.«
»Keine Abstraktion.« Er sagte es wie jemand, der erklärt, daß zwei und zwei vier ergibt. »Die vierte Dimension existiert wirklich. Sehen Sie den Zusammenhang?« Er reichte mir die Stereoskope.
Ich schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich hilflos. Seine Gedankengänge waren den meinen schon immer um mehrere Schritte voraus gewesen.
Er begann zu erklären.
»Das Instrument nimmt ein flaches, zweidimensionales Bild einer dreidimensionalen Landschaft auf. Erst in unserem Gehirn wird wieder der Eindruck eines dreidimensionalen Abbildes geschaffen.«
Er wartete einen Moment, bis ich seinen Gedankengang nachvollzogen hatte und lächelte nachsichtig.
»Wenn die vierte Dimension wirklich existiert und nicht nur eine mathematische Abstraktion ist«, er lächelte, als er das Wort aussprach, »können wir dann nicht ein Hyperstereoskop bauen, das das dreidimensionale Abbild eines vierdimensionalen Objekts festhält, so daß in unserem Gehirn wirklich ein Abbild dieser vierten Dimension entstehen würde?«
Ich sah hilflos zwischen dem Stereoskop und ihm hin und her.
»Um es vereinfacht auszudrücken«, fuhr er fort, »ist unsere dreidimensionale Welt nichts als ein Querschnitt durch das Universum, den wir im allgemeinen als ›Raum‹ bezeichnen, der aber in Wirklichkeit in einen vier- oder mehrdimensionalen Kosmos eingebettet existiert. In gewissem Sinn kann man unsere dreidimensionale Welt mit den Aufnahmen vergleichen, die Sie gemacht haben.«
»Ja«, sagte ich eifrig, froh, bei einem Thema angelangt zu sein, bei dem ich mich auskannte. »Auch die Gegenwart, das Jetzt, ist nichts weiter als ein Querschnitt durch die Unendlichkeit, ein Ausschnitt aus einem unendlichen und sich unwiderruflich bewegenden Raum.«
Er antwortete nicht. Er beendete die Durchsicht der Stereoskope und
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