Titan 19
Schönheit ihrer Erzählkunst ist das Bild, das Miß Seabright uns hier skizziert, doch ein melancholisches – das einer einst schöpferischen Bürgerschaft, die ihre Triumphe nur dazu nutzte, die Lust an dem als Zuschauer miterlebten Blutvergießen zu befriedigen. Natürlich wird Ihnen die Parallele zwischen diesem Imperium der Zukunft und jenem Weltreich in unserer gar nicht fernen Vergangenheit, dem der Römer, auffallen. Man kann nur hoffen, daß keine Kultur unserer Zukunft es versäumen wird, die Lektion zu beachten, die die Römer auf so hochherrschaftliche Weise ignorierten: selbst Sklaven und Gladiatoren sind Menschen und vermögen zu lieben.
Sternenstaub fällt vom Himmel
(BRIGHTNESS FALLS FROM THE AIR)
IDRIS SEABRIGHT
Kerr pflegte das Tepidarium des Identifizierungsbüros aufzusuchen, um dort seinen Gesang zu üben. Das Tepidarium war ein großer Saal, den das Becken mit schimmerndem Konservierungsmittel fast von einer Wand zur anderen ausfüllte, und er liebte seine Akustik. Wenn er sang, dann trieben die Leichen der Vogelleute in der durchsichtigen Flüssigkeit ein wenig hin und her, und er liebte es, sie anzusehen. Vielleicht war das Tepidarium wirklich ein etwas morbider Ort, um dort Gesang zu üben, aber dann (so sah Kerr das wenigstens gerne) war es auch nicht morbider als der Rest der Welt, in der er lebte. Und wenn er dann so lange gesungen hatte, wie es seiner Meinung nach für seine Stimme gut war – er hatte keinen Lehrer –, dann ging er immer an eines der Fenster und blickte auf die leuchtenden Streifen hinaus, die ihm sagten, daß die Vogelleute wieder kämpften. Diese Streifen schwebten langsam vom Nachthimmel herunter, als bestünden sie aus Sternenstaub. Aber als Kerr dann Rhysha kennengelernt hatte, hörte er mit all dem auf.
Rhysha kam eines Abends ins Büro, als er gerade seinen Dienst antrat. Sie war gekommen, um eine Leiche anzufordern. Die Leichen der Vogelleute blieben oft beträchtliche Zeit im Büro. Die Vogelleute durften wegen ihres extraterrestrischen Ursprungs die gewöhnlichen Transportmittel nicht benutzen, und es war für sie ziemlich schwierig, das Büro aufzusuchen, um ihre Toten zu identifizieren. Rhysha nahm die Identifizierung vor – es war ihr Bruder –, bezahlte die Gebühr aus einer abgewetzten Geldbörse und gab auf dem vorgeschriebenen Formular die Erklärung ab, wie die Leiche beseitigt werden sollte. Sie war in ihrem Leid ruhig und kontrolliert. Kerr hatte ein oder zweimal den im Fernsehen übertragenen Kämpfen der Vogelleute zugesehen, aber dies war das erstemal, daß er einen ihrer Art lebend und von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekam. Er sah sie interessiert und neugierig an, dann mit Staunen und Freude.
Das Auffälligste an Rhysha war ihr leuchtendes Federkleid von tiefem Türkisblau. Es bedeckte sie wie ein eng anliegender Samtumhang vom Kopf bis zu den Füßen. Die Färbung war so viel intensiver als die der Leichen im Tepidarium, daß Kerr geglaubt hätte, sie gehörte einer ganz anderen Gattung als jene an.
Ihr Gesicht unter dem goldenen Haarknoten wirkte ganz menschlich, ebenso ihre schlanken, blattförmigen Hände; aber an ihren Bewegungen war eine so fantastische, feingliedrige Grazie, wie sie noch nie ein Mensch besessen hatte. Ihre Stimme war tief und hatte die Tonfülle eines Cello. Kerr fand, daß alles an ihr selten und schön und eigenartig war. Aber über ihrem Gesicht lag ein Schatten, so als hätte die überwältigende Härte der Umstände alle natürliche Fröhlichkeit verdrängt.
»Wohin soll ich die Asche senden lassen?« fragte Kerr, als er das Formular entgegennahm.
Sie zupfte unschlüssig an ihrer rosafarbenen Unterlippe. »Ich weiß nicht. Dort wo wir untergekommen sind, hat man uns gesagt, daß wir heute abend abreisen müßten, und ich weiß nicht, wohin wir gehen werden. Könnte ich ins Büro zurückkommen, wenn die Asche bereit ist?«
Das war gegen die Vorschriften, aber Kerr nickte. Er würde die Aschenkapsel in seinem Schrank aufbewahren, bis sie wiederkam. Es würde nett sein, sie wiederzusehen.
Sie kam auch, Wochen später, um die Asche abzuholen. Unterdessen hatte es einige Kämpfe der Vogelleute gegeben, und das Becken im Tepidarium war voll. Als Kerr Rhysha ansah, fragte er sich, wie lange es dauern würde, bis auch sie tot war.
Er fragte sie nach ihrer neuen Adresse. Sie war fantastisch weit entfernt, im schlimmsten Viertel der Stadt, und nach einigem Zögern sagte er ihr, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher