Titan - 2
Augenblick fühlte er, wie sich die dumpfe, dunkle Wolke von Sissys Geist um ihn legte. Zur gleichen Zeit hörte er das kleine Mädchen rufen, sehr laut, sehr schrill und sehr deutlich: » Mama!«
Dieser Schrei hätte Miez-Miez-Kooomm selbst aus dem Grab geholt, geschweige denn aus noch so tiefem, schnupfendumpfem Schlaf. Binnen Sekunden war sie im Kinderzimmer, gefolgt von Dosenfutter, und hatte das kleine Mädchen in die Arme genommen. Immer wieder sagte es das wunderbare Wort und ließ, ein noch viel größeres Wunder, die Aufforderung folgen: »Halt mich fest!« Da gab es keine Zweifel mehr, selbst Dosenfutter hatte es gehört.
Dann traute sich Baby endlich zu weinen. Die Kratzer auf seiner Backe wurden entdeckt, und Gummiez – wie von ihm vorausgesehen – wurde unter Entsetzensrufen und Beschimpfungen von Miez-Miez-Kooomm in den Keller verbannt.
Dem kleinen Kater machte das nichts aus. Kein Keller konnte auch nur ein Zehntel so dunkel sein wie Sissys Geist, der ihn nun für immer gefangenhielt und all die schönen Karteikästen und Aktenmappen seines Gedächtnisses verhüllte und jene oft vorgestellte Szene des ersten Kaffeetrinkens und ersten Sprechens verblassen ließ.
Bevor er vollständig in tierhaftem Dunkel versank, begriff Gummiez in einer letzten, intuitiven Erkenntnis noch, daß der Geist nicht dasselbe ist wie das Bewußtsein, und daß man wohl den Geist verlieren, nein, opfern kann, aber immer noch mit dem Bewußtsein belastet ist.
Dosenfutter hatte die Hutnadel gesehen (und hastig vor Miez-Miez-Kooomm versteckt), deshalb wußte er sehr genau, daß die wahre Situation nicht dem Anschein entsprach und Gummiez irgendwie zum Sündenbock gemacht worden war. Er versuchte, Abbitte zu leisten, wenn er dem kleinen Kater während dessen Exil das Futterschüsselchen in den Keller hinunterbrachte. Für Gummiez war das ein Trost, allerdings nur ein recht geringer. In seiner neuen, dumpfen, stockenden Denkweise sagte sich Gummiez, daß schließlich und endlich der beste Freund einer Katze ihr Mensch war.
Von jener Nacht an gab es in Sissys Entwicklung nicht mehr die geringsten Rückschläge. Binnen zwei Monaten hatte sie die Sprechfortschritte von drei Jahren gemacht. Sie wurde ein außergewöhnlich kluges, leichtfüßiges, fröhliches kleines Mädchen. Sie erzählte nie jemandem davon, aber das mondhelle Kinderzimmer und Gummiez’ riesiges Gesicht waren ihre ersten Erinnerungen. Alles davor war dumpfe Schwärze. Auf etwas zurückhaltende Art war sie immer sehr nett zu Gummiez. Sie machte jedoch nie das Spiel mit, bei dem man einander in die Augen starrt, bis einer den Blick abwendet.
Nach einigen Wochen überwand Miez-Miez-Kooomm ihre Besorgnis, und Gummiez wurde wieder in Gnaden aufgenommen und konnte sich frei im Haus bewegen. Inzwischen aber war die Veränderung, von der Dosenfutter gesprochen hatte, eingetreten. Gummiez war kein Kätzchen mehr, sondern ein stämmiger Kater. In psychischer Hinsicht bewirkte die Veränderung nicht, daß er grantig oder unfreundlich wurde, sondern lediglich ungeheuer würdevoll. Manchmal wirkte er wie ein alter Seeräuber, der über vergrabene Schätze nachbrütet, über ferne Küsten voller Abenteuer, die er nie mehr erreichen würde. Und manchmal, wenn man ihm in die gelben Augen schaute, begriff man, daß hinter dieser pelzigen Stirn das gesammelte Material für das Buch Schlitzaugen sehen das Leben – zumindest drei oder vier Bände – lag, wenn er es auch nie schreiben würde. Und das war, wie man einsehen wird, ganz natürlich, da es sein Schicksal war (wie Gummiez selbst mit bitterer Deutlichkeit erkannte), das einzige Kätzchen der Welt zu sein, das nicht zu einem Menschen heranwuchs.
P HILIP K. D ICK
F OSTER , DU BIST TOT
Die Schule war eine Qual wie immer. Heute war es allerdings besonders schlimm.
Mike Foster flocht seine beiden wasserfesten Körbe fertig und saß dann still da, während um ihn herum die anderen Kinder sich weiter mit ihren Arbeiten beschäftigten. Draußen über dem Stahlbetongebäude schien eine matte Nachmittagssonne. Grüne und braune Hügel schimmerten in der kühlen Herbstluft. Am Himmel kreisten ein paar NATS über der Stadt.
Die plumpe, bedrohliche Gestalt der Lehrerin, Mrs. Cummings, näherte sich leise seinem Pult. »Foster, bist du schon fertig?«
»Ja, Frau Lehrerin«, antwortete er eifrig. Er schob ihr die Körbe hin. »Kann ich jetzt gehen?«
Mrs. Cummings besah sich die Körbe prüfend. »Und wie weit bist du
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