Titanus
Pi-tschin schwieg abwartend. Seine Augen ruhten aufmerksam auf dem erregten Gesicht des Jüngeren und strahlten eine Wärme aus, die unbedingtes Vertrauen erweckte.
Endlich lehnte sich Nasarow im Stahlrohrsessel zurück und hob seinen Blick von den faltigen, aderndurchwirkten Händen des Chinesen.
»Ich bin enttäuscht…«
Chi Pi-tschin nickte bedächtig. »Man ist oft enttäuscht im Leben«, sagte er freundschaftlich. »Meistens jedoch, weil man von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.«
Nasarow achtete nicht darauf. Tief in Gedanken, mehr zu sich als zu seinem Gast sagte er: »Noch nie erteilte die Menschheit einen solchen Auftrag. Wir sind die ersten Menschen, die Jahrhunderte überspringen und den fernen Nachkommen der heutigen Generation die Hände schütteln können. Wir werden das sehen und erleben, was heute in utopischen Romanen beschrieben wird.« Er sah Chi Pi-tschin beschwörend an. »Ein Unternehmen von gewaltigem Ausmaß, von ungeheuerer Tragweite! Ein Unternehmen mit höchstem ethischem Sinn!« sagte er eindringlich, als hätte der Freund widersprochen.
Chi Pi-tschin saß stumm und unbeweglich im Sessel. Seine Augen, seltsam jung und wach, waren auf Nasarows Gesicht gerichtet. Er liebte große Worte nicht.
»Man sollte annehmen«, begann Nasarow von neuem, »daß alle Teilnehmer davon durchdrungen sind, daß sie sich dieser Aufgabe untergeordnet haben. Aber wie ist es wirklich? Der eine sucht das Abenteuer, und der andere… Eine Frau treibt ihn, eine Liebestragödie! Unser Auftrag ist für sie nur Mittel zum Zweck. Welch eine Entwürdigung! Das sind Söldner der Wissenschaft, keine überzeugten Kämpfer. Gäbe es nicht die Expedition, dann wäre der eine barfuß über den Südpol marschiert, und der andere hätte sich im Dorfteich ertränkt!«
Nasarow verstummte. Und er hatte auf Tamara verzichtet! Chi Pi-tschin nickte wiederum bedächtig. In die Falten um seinen Mund schlich sich ein feines Lächeln.
»Ihre ethische Begeisterung ehrt Sie, Genosse Nasarow. Von einer Aufgabe erfüllt zu sein, das befähigt zu gewaltigen Erfolgen. Aber man darf über seiner Aufgabe nicht die Menschen vergessen, die sie erfüllen helfen. Wer eine Aufgabe um ihrer selbst willen lösen will, vergißt leicht den Zweck, dem sie dient. Diese beiden, der Abenteurer und der Lebensmüde – wie Sie sie zeichnen –, sind nicht nur Mitglieder der Expedition, sondern vor allem Menschen, die durch eine gemeinsame Aufgabe zusammengeführt werden. Vergessen Sie das, können Sie schwere Rückschläge erleiden. Man muß mit Menschen rechnen, nicht mit genormten Schablonen. Es wäre leicht, wenn man das könnte, zu leicht, und – es wäre langweilig! Die einzelne Leistung gewinnt doch ihre wahre Bedeutung erst, wenn man ihre individuellen Voraussetzungen berücksichtigt.«
Chi Pi-tschin sann seinen Worten nach. Es war nicht leicht, Nasarow aus den Wolken seiner ehrlichen Begeisterung auf den Boden der Wirklichkeit herunterzuholen. Von einer Aufgabe durchdrungen sein und doch auf nüchternen Tatsachen aufbauen, die Menschen nehmen, wie sie sind – nicht wie man sie haben möchte –, und dann mitreißen…
Er bemerkte, daß Nasarow steif im Sessel lehnte. Begütigend legte er ihm die Hand auf den Arm.
»Verzeihen Sie einem alten Mann, junger Freund! Das sollte keine schulmeisterliche Wiederholung gesellschaftlicher Lehrsätze sein. Der ständige Aufenthalt außerhalb des irdischen Treibens verleitet zum Grübeln über menschliche Probleme, über die eigene Vergangenheit und die eigenen Fehler. Fehler, vor denen man andere bewahren möchte. Hier oben sieht man alles mit größerem Abstand, schärfer und tiefer.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Sie können nur dann erwarten, daß sich ein Mensch bis zum Letzten einsetzt, wenn Sie seiner Persönlichkeit gerecht werden. Menschen als Menschen nehmen, das ist es! Menschen ergründen, ihre Hemmungen und Schwierigkeiten aufspüren, geduldig und verständnisvoll, ihnen helfen, sie zu überwinden, nur dann finden Sie eine gemeinsame Sprache, nur dann können Sie mitreißen. Nur so können Sie verhüten, daß Sie mehr fordern, als man geben kann! Die Gemeinschaft setzt sich aus Menschen zusammen, die füreinander leben, das heißt aber nicht, daß sie nicht eigene Wünsche und Vorstellungen, eigenes Empfinden behalten. Gibt nicht diese Tatsache der Gemeinschaft erst ihre schöpferische Vielseitigkeit und ihre Kraft, ist nicht diese Tatsache das Großartige der Gemeinschaft,
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