TITLE
– »Die blaue Farbe stand Ihnen aber sehr gut.« – »Ja, die Farbe wohl, aber das Kleid! Sie werden sich erinnern, daß dieses Ihnen selbst nicht gefiel.«
»Na,« sagte Mr. Hawarden, »es wird sich hoffentlich alles noch machen.« Meine Augen wichen nicht von dem Zeiger der Uhr. »Geht diese Uhr nicht zu spät?« fragte ich. – »In der Familie Hawarden,« sagte der Doktor lachend, »gehen die Uhren nie zu früh oder zu spät, sondern stets auf die Minute. Deswegen wird, sobald der Tee getrunken ist und die Kuchen gegessen sind, ein jedes sich auf sein Zimmer verfügen, denn es wird dann halb sieben Uhr sein und wir brauchen zehn Minuten, um von hier nach Drury Lane zu gelangen.« Als die Kuchen gegessen und der Tee getrunkenwar, ging ich mechanisch in mein Zimmer hinauf, welches dasselbe war, in welchem ich geschlafen. Ich wußte nicht recht, was ich während der vierzig Minuten, die uns noch von dem glücklichen Augenblick des Aufbruchs trennten, machen sollte, als ich auf dem Bett ein reizendes Kleid von blauem Taffet liegen sah, welches aus dem Himmelszelte geschnitten zu sein schien. Gleichzeitig trat die Zofe ein.
»Sie erlauben wohl, Miß,« fragte sie, »daß ich Ihnen beim Ankleiden ein wenig behilflich bin?«
Indem sie dies sagte, hob sie das Kleid mit beiden Händen empor. Nun erst begriff ich, was bis jetzt in Mr. Hawardens Worten mir dunkel geblieben war. Er hatte nicht bloß daran gedacht, mich ins Theater zu führen, sondern mir auch dazu ein Kleid geschenkt. Die Tränen traten mir in die Augen. Ich empfand das Bedürfnis, zu ihm zu eilen und ihm meine Dankbarkeit auszusprechen. »Wo ist Mr. Hawarden?« fragte ich die Zofe. – »Er kleidet seine Gattin an, damit ich Ihnen behilflich sein kann und damit alle zur rechten Zeit fertig seien.«
Ich ward förmlich betrübt über diese vollendete Güte, denn ich fühlte, daß ich unfähig wäre, dieselbe jemals zu vergelten, ja auch nur gebührend dafür zu danken. Ich war mehr träumerisch als ungeduldig geworden. Ich dachte an diesen Mann, der allgemeine Berühmtheit genoß, der einer der ersten Ärzte von London, ein ausgezeichneter Anatom, ein Gelehrter ersten Ranges war und sich die Mühe nahm, seine Frau anzukleiden, damit die Tochter der armen Bauermagd, damit die ehemalige Kinderwärterin seines Vaters, damit Mr. Plowdens Ladenmamsell nicht zu spät ins Theater käme und auch nicht des mindesten Teils des Glücks verlustig ginge, welches sie sich versprach.
Es liegt in dem Genie eine barmherzige Güte für die Kleinen, eine erhabene Sanftmut gegen die Schwachen, wodurch es sich der Allmacht Gottes nähert. Ein Viertel auf acht Uhr pochte der vortreffliche Mann selbst an meine Tür. »Nun,« fragte er, »wie weit sind wir?«
Ich ging rasch hinaus, ergriff ihn bei der Hand und küßte ihm dieselbe, ehe er meine Absicht erraten konnte. Er sah mich an. Ohne Zweifel war ich sehr hübsch, denn er zuckte zärtlich mitleidig die Achseln und sagte, indem er mich seiner Gattin zeigte, welche in diesem Augenblicke aus ihrem Zimmer trat: »Gestehe, daß es ein großes Unglück wäre, wenn dieses Meisterwerk der Schöpfung aufAbwege geriete!« Dann, und als ob er bereuete, meinem Stolze diese Nahrung gegeben zu haben, sagte er: »Vorwärts, vorwärts in den Wagen! Ich habe diesem Kinde versprochen, noch vor dem Aufziehen des Vorhanges mit ihm an Ort und Stelle zu sein.« In der Tat nahmen wir in unserer Loge gerade in dem Augenblicke Platz, wo die Ouvertüre begann. Ich hatte noch Zeit einen Blick auf den glänzenden Halbkreis zu machen. Sheridan, welcher damals Theaterdirektor war, hatte das Haus kürzlich von dem ersten Dekorateur Londons restaurieren lassen. Man konnte sich in einen Feenpalast versetzt glauben. Was mich betraf, so war ich geblendet von dem Licht, magnetisiert von der Musik, bezaubert durch das Gold, die Diamanten und die Blumen, und nicht begreifend, wie man so viel Schätze hier zusammenbringen könnte, ohne gleichsam die ganze Welt zu ruinieren, nicht imstande zu sagen oder mir auch nur zu denken, wo ich wäre.
Der Vorhang ging auf. Ich sah nun weiter nichts mehr als einen öffentlichen Platz in Verona.
8. Kapitel.
Wer mir in allen Phasen meiner obskuren und unwissenden Kindheit gefolgt ist, kann sich eine Idee von der Wirkung machen, welche diese Vorstellung von ›Romeo und Julia‹ auf mich hervorbrachte, während die Hauptrollen von dem größten Tragöden, den England gehabt, und von der größten Tragödin, welche es
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