Tochter der Insel - Historischer Roman
wird er dir eines Tages nützlich sein.« Lea spürte die Glieder der schweren Kette durch die dünne Seide.
Rebekka umarmte sie. »Ich werde dir jede Woche schreiben und Zeichnungen schicken. Du wirst dir alles ganz genau vorstellen können. Ich werde dir die Menschen dort beschreiben, und wenn du dann kommst, wird dir nichts mehr fremd sein. Wie freue ich mich heute schon darauf. Ach, wenn du doch nur mitkommen könntest!«
Lea strich der Schwester sanft über den Arm. »Geh du nur voran und ebne mir den Weg. Hast du das nicht immer getan, deinen Kopf für uns beide riskiert? Meine wunderbare mutige Schwester.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, umschloss Rebekkas Gesicht mit beiden Händen und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn. »Nun ist aber Schluss mit Abschiedsschmerz! Geh und finde dein Glück. Wie beneide ich dich um das große Abenteuer und den Mann deiner Träume.«
Lea sah ihrer Schwester nach, die, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Weg zum Strand einschlug. Kurz durchzuckte sie der Gedanke, dass sie Rebekka vielleicht niemals wiedersehen würde. Dann aber straffte sie die Schultern. Was für ein Unsinn! Hatte Rebekka nicht immer alles erreicht, was sie wollte? Und es sollte sie nicht wundern, wenn es ihr tatsächlich gelingen würde, einen Weg zu finden, damit sie bald wieder zusammen sein konnten.
Doch zunächst einmal musste der Mann ihrer Träume , wie Rebekka ihn genannt hatte, kommen. Unbeschwert und fröhlich, so hatte die Schwester den Fremden beschrieben. Nach außen mochte er das sein, doch wie war dieser Mann wirklich, der Rebekka mit sich nehmen wollte? Was, wenn all seine Weisheiten über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht der Wahrheit entsprachen?
Leas Gedanken drehten sich im Kreis und blieben schließlich wieder bei der alles entscheidenden Frage stehen: Was, wenn er nicht kam?
Weit unten konnte sie Rebekkas Gestalt ausmachen. Es war menschenleer am Wasser, die Badegäste standen beim Pavillon, um die Abfahrt des Dampfers, der Telegraph, zu beobachten. Rebekka hatte ein Treffen in der Nähe des Landeplatzes vorgeschlagen. Und nun stand sie wie verloren am Meeressaum und blickte den Pfad hinauf, von dem ihr Liebster kommen musste.
Mit dem gleichen Bangen saß Lea in ihrem Dünenversteck und wartete. Die Sonne brach für einen Augenblick durch die Wolken und legte einen goldenen Schleier auf das Wasser. Doch Lea nahm die Schönheit der Insel, das Zusammenspiel von Wellen, weißem Sand und goldenem Meer, nicht wahr. Ihre Hände krallten sich in ihr besticktes Taschentuch. Sie fühlte die Pein der Schwester, als ob es ihre eigene wäre. Spürte mit jedem Herzschlag die Hoffnung ein bisschen mehr schwinden. Der Fremde, der den Namen Arne trug, würde nicht kommen!
Doch gerade als Lea alle Hoffnung fahren lassen wollte, hörte sie ein Pfeifen und sah in unmittelbarer Nähe eine Gestalt. Endlich! Vom schmalen Weg lief jemand mit großen Schritten auf den Strand zu.
»Er ist es wahrhaftig!«, murmelte Lea.
Sie sah zu Rebekka, die einen Arm hob und winkte. Ein Strahlen lag auf ihrem Gesicht.
Der Mann mit dem Gang eines Seefahrers hatte helles, lockiges Haar und ein fröhliches Lächeln um den Mund. Der Fremde strahlte eine gewisse Leichtigkeit aus. Sein gutes Aussehen täuschte über das verwaschene Hemd und die schäbige Hose hinweg. Dieser Mann sah nicht so aus, als habe er viel mitzunehmen in die Neue Welt. Und wie Lea wusste, konnte er Rebekka außer der Fahrkarte von Bremerhaven nach Amerika, die er einem armen Süddeutschen beim Kartenspiel abgenommen hatte, nichts bieten.
»Als ob mir das etwas ausmachen würde. Wir beide werden in Amerika gemeinsam unser Glück machen«, hatte sie nur leichthin gemeint.
Lea atmete erleichtert auf. Er war tatsächlich gekommen. Für einen Moment überwog die Freude und verdrängte den Abschiedsschmerz. Sie sah, wie Rebekka mit einer Hand das Tuch mit dem Proviant fest an sich drückte und mit der anderen nach dem Koffer griff. Sie stolperte über den Strand und blieb schließlich vor dem Mann stehen, der seinen breitkrempigen Hut lüftete und sich leichtfüßig verbeugte. Er nahm Rebekka den Koffer aus der Hand und sank theatralisch in die Knie. Dann stelle er das Gepäckstück wieder ab, umfasste mit beiden Händen Rebekkas Gesicht und küsste sie lange und ausgiebig. Lea wandte sich verlegen ab. Ihre Wangen begannen zu glühen.
Schließlich ließ der Fremde Rebekka los und griff wieder nach dem Koffer. Gemeinsam entfernten sie
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