Tochter der Insel - Historischer Roman
Erinnerungen zu verscheuchen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Immer wieder sah sie das Gesicht ihrer Schwester vor sich. An einem Abend, sie waren damals vierzehn gewesen und Großmutter ausgegangen, zogen sie sich nackt aus und bauten sich voreinander auf. Lea wusste, dass dies sündhaft war. Zum Umziehen nutzten die Schwestern sonst einen Umhang, und sie badeten getrennt. Aber Rebekka lachte nur verächtlich.
»Ich möchte einmal im Leben wissen, wie wir ohne dieses scheußliche Flatterzeug aussehen. Es gibt im ganzen Haus keinen Spiegel, aber wir brauchen auch keinen.«
Rebekka hatte recht. Genau wie ihre Gesichter waren auch ihre Körper wie aus einem Guss. Lea konnte den Blick nicht von ihrer Schwester lösen. Deren Haut war selbst da dunkel, wo die Sonnenstrahlen sie niemals erreichten. Rebekka war schön. Klein zwar, doch nicht hager und knochig, wie manche junge Mädchen der Insel. Rebekkas Brüste waren fast so groß und rund wie die Apfelsinen, die manchmal an den Strand gespült wurden. Trotzig befreite sie das lange Haar aus dem geflochtenen Zopf. Es fiel weit über ihre Schultern, fast bis zur schmalen Taille. Rebekka ergriff eine Strähne und hielt sie hoch.
»Ich finde, wir sehen richtig hübsch aus, Lea. Selbst das hier.« Sie deutete auf das herzförmige Muttermal unterhalb ihres linken Auges, das auch Lea an derselben Stelle hatte. »Es sieht von Weitem aus wie eines der Schönheitspflaster, die sich die Gäste der Hofrätin manchmal ins Gesicht kleben. Nur Großmutter gefallen wir nicht. Aber das hat mit unserem Vater zu tun, der wahrscheinlich nicht einmal etwas davon weiß, dass es uns gibt. Es ist so ungerecht! Vielleicht wäre er froh, Töchter zu haben. Vielleicht sind wir Kinder eines Königs. Eines Tages kommt er und entführt uns von dieser tristen Insel. Doch bis dahin müssen wir hier ausharren.« Sie drehte sich um sich selbst, und das dunkle Haar umwehte ihren Körper wie ein Schleier.
Lea sah ihre Schwester vor sich. Rebekka, der temperamentvolle Wirbelwind, dem es mit der Zeit immer schwerer gefallen war, den inneren Widerstand gegen Großmutter einzudämmen. Sie wusste genau, womit sie die alte Frau treffen konnte. Damals erntete die Schwester die ersten bewundernden Blicke. Großmutter fand es schon sündhaft, einen Mann nur zu bemerken. Doch Rebekka tat viel mehr als das. Sie begann die Männer zu locken, sich von den Matrosen und wohlhabenden Badegästen ansprechen und einladen zu lassen. Das Tändeln schien ihr im Blut zu liegen. Sie genoss die Aufmerksamkeit, forderte sie geradezu heraus.
Das erste Mal, als Großmutter davon hörte, dass Rebekka mit den männlichen Gästen der Hofrätin und der Besatzung ankommender Schiffe kokettierte, stand Lea noch deutlich vor Augen. Stunde um Stunde saß Großmutter am Tisch und wartete auf Rebekkas Heimkehr. Sie selbst versuchte, den Tratsch herunterzuspielen, Entschuldigungen zu finden, wurde jedoch nur finster angestiert.
Als Rebekka endlich singend das Haus betrat, strahlte sie pure Lebensfreude aus, und ihre Wangen waren gerötet. Großmutter blickte sie an, schob den Stuhl zurück und baute sich vor Rebekka auf. Ihr Gesicht war von Wut verzerrt. Die späte Nachmittagssonne schien durch das Sprossenfenster herein und tauchte alles in ein sandig graues Licht. Rebekka erstarrte, und Lea bemerkte den merkwürdig erwartungsvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Einen Herzschlag lang waren die beiden Gegenspielerinnen wie erstarrt. Großmutter groß und füllig. Ihr grauer Haarknoten schien vor Missbilligung zu zittern. Ihr gegenüber ihre zierliche Zwillingsschwester, das Gesicht in trotzigem Stolz erhoben, die Schultern gestrafft.
Wie David und Goliath, schoss es Lea durch den Kopf.
Großmutter hob ihre Hand und schlug Rebekka mit voller Wucht ins Gesicht. Ein dumpfes Klatschen. Rebekkas Kopf flog zur Seite.
»Schande über dich, dass du mir das antust. Du bist keinen Deut besser als deine Mutter!«
Rebekka stand einfach nur da und sah sie an. Die frische Farbe war aus ihren Wangen verschwunden, das fröhliche Lachen erstorben. Wo der Schlag sie getroffen hatte, färbte sich die Haut rot. In ihren Augen glitzerten Tränen.
»Diese Schande! Ich sorge für dich, obwohl du nicht mein eigenes Fleisch und Blut bist. Ich versuche, einen anständigen Menschen aus dir zu machen, und du tust mir das an! Schleichst bei den Seeleuten herum, wie eine Hafendirne.«
»Du hast kein Recht, mich mit einer Dirne zu vergleichen.«
»Wenn ich an
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