Tochter der Insel - Historischer Roman
sich. Rebekkas roter Rock mit dem breiten grünen Wollband blähte sich im Wind und gab ihre wohlgeformten Beine frei. Ihre schlanke Gestalt warf einen Schatten auf den weißen Sand.
Für einen winzigen Moment wandte die Schwester sich um und blickte zurück. Lea hob die Hand und winkte. Rebekka nickte ihr zu, warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Ich reise der Sonne entgegen«, rief sie so laut, dass es zu Lea herüberschallte. Dann streckte Rebekka die Arme aus, als wolle sie die goldene Kugel umfangen und nie wieder loslassen.
»Ich wünsche dir alles Glück der Welt«, murmelte Lea leise.
1.
Wangerooge
Frühjahr 1854
1
L ea!« Die Stimme von Katharina Brons durchschnitt schrill die Stille.
Lea seufzte und erhob sich von der Fensterbank. Sie trat aus ihrem Zimmer, verharrte beim Treppengeländer und sah nach unten.
Die alte Frau warf einen Blick nach oben und winkte ihrer Enkeltochter zu. Dann trat sie schwer atmend an die Glasvitrine, in der sie auch den Ständer mit Tonpfeifen aufbewahrte, und griff nach der Goldkette mit dem Hänger in Form eines Schlüssels. Rasch legte sie den Schmuck an.
Lea kam langsam die Treppe herunter. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie fragte sich, wie schon so oft, zu welchem Schloss dieser Schlüssel gehörte, und warum Großmutter einmal im Monat mit der Telegraph nach Bremen fuhr. Auf ihre Fragen hatte es keine Antwort gegeben. Was waren das für Geheimnisse, von denen sie nichts wissen durfte?
»Dass du die Zeit nicht mit Trödeln vertust, Lea! Du weißt, es wartet einiges an Arbeit auf dich. Morgen kommen die Eheleute Freese mit dem Dampfer . Ihre Kammern musst du noch herrichten. Sie werden sich auch wohl kaum mit Hafergrützensuppe und Feldbohnen zufriedengeben. Sprich bitte bei der Hofrätin vor, ob die beiden im Seebad ihre Mahlzeiten einnehmen können. Gegen die Köche vom Festland kommen wir nicht an.«
Katharina Brons’ Atem ging keuchend. Sie hatte ein schwaches Herz und es brauchte viele Kissen, damit sie nachts genügend Luft bekam. Schon seit Jahren drängte der Badearzt auf Ruhe und Mäßigung beim Essen, doch davon wollte Großmutter nichts wissen. Sie hatte ihren eigenen Kopf.
Lea wandte den Blick vom Dielenfenster, durch das sich ein Sonnenstrahl ins Haus gestohlen hatte, und betrachtete ihre Großmutter. Auf dem von Falten durchzogenen Gesicht lag ein missmutiger Ausdruck. Das graue Haar war zu einem Knoten aufgesteckt. Neben Großmutters Größe und Fülle kam sich Lea wie ein kleines Kind vor. Sie wusste, was gleich kommen würde, und straffte trotzig, wie gegen einen starken Wind, die Schultern. Es waren immer die gleichen Tiraden. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.
»Und beschwer dich nur ja nicht über die viele Arbeit. Es ist zu deinem Besten. Ich will nicht, dass du wie deine Mutter endest. Die hatte nichts Vernünftigeres zu tun, als dem lieben Gott mit Lesen und Müßiggang den Tag zu stehlen. Ich habe meinen Sohn damals gewarnt. Aber nein, er musste sich ja eine gebildete Frau vom Festland mitbringen! Dieser dumme Bengel war vor Liebe ganz blind. Hätte mich lieber vorher fragen sollen. Ich hab gleich gewusst, dass die beiden nicht zusammenpassen. Singen konnte deine Mutter, ja, und Gedichte zu Papier bringen. Doch sie brachte es nicht einmal fertig, die Bohnen in einer geraden Reihe zu pflanzen, wusste nicht, wie man das Vieh melkt und Butter ansetzt. Dieses Frauenzimmer hatte ihr Lebtag noch kein Essen auf den Tisch gebracht. Das musste ich ihr alles mühevoll beibringen.
Und was glaubst du, war der Dank? Was hat sie getan, wenn mein Sohn zur See fuhr? Spazierte am helllichten Tage mit diesen ach so feinen Badegästen durch die Dünen, anstatt der Schwiegermutter beim Täglichen zu helfen. ›Was, denkst du, tut so eine wochentags im besten Kleid, wenn ihr Mann auf See ist? Wenn niemand auf sie aufpasst?‹, habe ich zu meinem Sohn gesagt. Es war ihre Strafe, dass sie bei der Niederkunft umgekommen ist. Diesen Fluch hat Gott ihr gesandt.«
Jedes Wort bohrte sich in Leas Herz wie ein vergifteter Pfeil. Es war ein offenes Geheimnis, dass ihre Mutter ihren Ehemann betrogen hatte. Sie und Rebekka waren der lebende Beweis dafür. Am liebsten wäre Lea aus dem Haus gerannt. Es war unverkennbar, dass Großmutter wieder einmal nur ihre Verbitterung über die vermeintliche Schuld der Mutter am Tod ihres Sohnes an ihr auszulassen versuchte. Vielleicht war es sogar dieser Hass, der sie am Leben hielt.
»Und deine
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