Tochter der Nacht
hören, der ihn von den beiden ersten Portalen vertrieben hatte.
»Warum ist es hier so dunkel?« fragte er. »Die Sonne müßte doch schon aufgegangen sein…«
»Die Dunkelheit, die dich umgibt, ist nicht nur auf das feh-lende Sonnenlicht zurückzuführen«, erwiderte der Bote.
»Du suchst das Licht der Erleuchtung.«
Tamino schlug die Hände an den Kopf und umfaßte die Flöte fester, damit sie ihm nicht aus den Fingern glitt. »Reden denn alle hier nur in Rätseln?« fragte er ärgerlich. »Trotz dem ganzen Gerede von Wahrheit scheint es nur sehr wenig zu geben, zumindest wenn es um klare, ehrliche Antworten geht.«
»Wenn du schwierige Fragen stellst, auf die es keine einfa-chen Antworten gibt, können wir sie kaum einfach beantworten«, hörte er die Stimme des – oder aller – Boten. Tamino gab sich alle Mühe, die schwankenden Gestalten deutlich zu sehen. Doch er sah nur die Bewegung verhüllter Körper, niemals ein ganzes Gesicht, höchstens die Andeutung eines Ausdrucks, amüsiert, humorvoll oder mitleidig, eine Bewegung, die an Flügel denken ließ – oder an einen nackten, muskulösen Arm? Oder waren es nur wallende Gewänder?
Tamino wünschte, die Boten würden stillhalten, damit er deutlich sehen konnte, wer oder was sie waren.
Er erwiderte: »Etwas Ähnliches habt ihr auch Papageno gesagt. Er ist ein Vogel-Halbling und hat nicht viel im Kopf.
Aber ich glaube, ich kann eine vernünftige Antwort verstehen, wenn ihr sie mir gebt. Meiner Meinung nach ist eine Frage wie: Wann geht die Sonne auf? sehr einfach!«
»Ich kann sie beantworten«, entgegnete der Bote – oder sprachen alle drei gleichzeitig? »Wenn die Dunkelheit nicht bald dem Licht weicht, wirst du für immer im Dunkeln wandern, das sich nie lichtet.« Die Stimme klang wie ein mächtiger Chor, und es dauerte eine Weile, ehe Tamino begriff, was sie gesagt hatte.
»Wieder ein Rätsel«, erklärte er aufgebracht, »auf eine ganz einfache Frage.«
»Wieso hältst du es für eine einfache Frage?«
Darauf wußte Tamino nicht sofort eine Antwort. Wütend rief er: »Nun, hier habe ich eine Frage, die vielleicht einfach genug ist. Sagt mir, Ihr Rätselfreunde, ist Pamina noch am Leben, oder hat Sarastro sie umgebracht?«
»Pamina lebt, und ihr ist kein Leid geschehen«, antworteten die Boten. »Mehr mußt du im Augenblick nicht wissen.« Die körperlosen Gestalten flackerten noch einmal auf und waren plötzlich verschwunden. Mit ihnen verschwand auch das Licht, und Tamino blieb wieder allein im Dunkeln zurück.
Diese Antwort war wenigstens eindeutig gewesen. Doch hatte er noch andere Fragen stellen wollen, darunter auch die wichtigste: Sarastro? – Was ist er für ein Mensch? Wer hat die Wahrheit gesagt, die Königin der Nacht oder der alte Priester? Doch Tamino tröstete sich damit, daß die Boten ihm vermutlich doch nur in Rätseln geantwortet hätten, und davon hatte er genug für heute – für sein ganzes Leben.
Zumindest hatte er eines erfahren: Pamina lebte, und wahrscheinlich ging es ihr gut, und noch etwas dazugelernt: Die Flöte brachte ihm Erleuchtung – allerdings fühlte sich Tamino im Augenblick verwirrter als je zuvor, denn er irrte noch immer im Dunkeln.
Plötzlich ging die Sonne auf. Doch hier im heiligen Bezirk war es kaum dieselbe grelle, unbarmherzige Sonne, die er aus der Wüste nur allzu gut kannte. Hier schien eine sanftere Sonne, die ein weiches, dunstiges Licht verströmte.
Tamino überlegte, ob die rätselliebenden Boten auch darin ein Symbol für die Erleuchtung sehen würden. Oder bedeutete es nur, daß die Sonne aufging, wie jeden Tag in der Welt draußen und vermutlich auch im Reich der Königin der Nacht? Auf jeden Fall war es jetzt noch wichtiger geworden, Papageno ausfindig zu machen und ein Versteck zu suchen, denn bald würden die Priester zur Stelle sein…
Und die Boten? Würden sie wieder auftauchen und noch weitere Rätsel stellen, wenn er die Flöte spielte? Sie waren wie von selbst verschwunden, vermutlich, weil sie glaubten, er habe fürs erste genügend Erleuchtung erfahren. Wenn er also jetzt noch einmal spielte, bedeutete das, ohne ihre zwei-felhafte Führung, Erleuchtung zu suchen, oder, dachte Tamino spöttisch, lediglich Musik zu machen oder auch Papagenos Aufmerksamkeit zu erregen, der die Flötentöne vermutlich eher hören würde als sein Rufen. Vielleicht würde er sie aber auch nur für Vogelgezwitscher halten.
Was auch geschehen mochte, er würde es versuchen. Wenn die Boten es
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