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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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Tamino einem blassen Licht, als würde dort bald die Sonne aufgehen, und er vermutete, dort müsste Osten sein. Als Tamino sich dem ersten der riesigen Gebilde näherte, war es hell genug, um zu erkennen, daß es eine prächtige Fassade war. Zwischen zwei mächtigen Säulen, einer weißen und einer schwarzen, entdeckte er ein hohes Portal. Darüber stand in einer Schrift, die Tamino kaum entzif-fern konnte:
ERLEUCHTUNG
    »Davon könnte ich in dieser Dunkelheit schon etwas gebrauchen«, dachte Tamino, näherte sich dem Tor und hob die Hand, um anzuklopfen.
    Im selben Augenblick erschallte wie Donner ein mächtiger Chor – oder war es nur eine Stimme, deren Echo widerhallte wie das seiner eigenen Stimme?
    Zurück! Der Unwürdige findet hier den Tod!
    Tamino zuckte unwillkürlich zurück, als fürchtete er, vom Blitz erschlagen zu werden, wenn er das Tor berührte.
    Es hätte den unsichtbaren Stimmen gut angestanden, ihm ein wenig Erleuchtung zu gewähren und ihm zu verraten, weshalb er hierher geführt worden war, dachte Tamino, anstatt ihn so unfreundlich zu vertreiben. Außerdem hatte man ihm gesagt, es sei der Sinn der Prüfungen, erleuchtet zu werden.
    Was nun? Einen Augenblick lang betrachtete Tamino prü-
    fend das Portal, wo man ihm den Einlaß verwehrt hatte. Wie wurde man würdig, wenn es den Tod bedeutete, als Unwürdiger hier die Erleuchtung zu suchen?
    Nach einiger Zeit nahm die Helligkeit etwas zu. Tamino wandte sich um und sah die Umrisse von zwei anderen Ge-bäuden. Langsam näherte er sich dem nächsten. Im Giebel stand das Wort:

WEISHEIT
    Wenn mir die Erleuchtung versagt bleibt, dachte Tamino, ist Weisheit das Nächstbeste. Er sah einen schweren Türklopfer, trat vorsichtig näher und wollte danach greifen.
    »Zurück! Du bist noch nicht würdig!« donnerten die Stimmen.
    Wie angewurzelt blieb Tamino stehen. Immerhin, dachte er, klingt das schon etwas besser. Diesmal haben die Stimmen nichts von Tod gesagt. Trotzdem hatte sich seine Lage nicht gebessert. Er war immer noch allein, hatte sich verirrt, und es gab niemanden, der ihm helfen konnte.
    Aber es gab noch ein drittes Tor. Wenn man jedoch bedachte, wie wenig hilfsbereit die Leute in dieser Gegend zu sein schienen, war es vermutlich reine Zeitverschwendung, auch nur anzuklopfen.
    Tamino näherte sich dem dritten Tor, das erheblich kleiner und weniger prächtig war als die anderen beiden. Im zuneh-menden Licht konnte er gerade noch die Inschrift über dem Eingang erkennen:
WAHRHEIT
    »Wenn ich weder Erleuchtung noch Weisheit haben kann«, dachte Tamino, »ist Wahrheit vielleicht kein schlechter Ersatz.« Er streckte zögernd die Hand aus und klopfte.
    Stille. Immer noch Stille. Tamino überlegte, ob dies irgendwie symbolisch sei, daß im Tempel der Wahrheit niemand anzutreffen war – ein Zeichen dafür, wie schwierig es ist, die Wahrheit zu finden.
    Doch dann hörte er drinnen ein leises Geräusch, wie das Rascheln von Mäusen. Immerhin, man hatte ihn nicht empört davongeschickt. Tamino wartete. Es wurde heller; wenn es aber bedeutete, daß die Sonne aufging, mußte sie inzwischen schon über dem Horizont sein. Doch irgend etwas an diesem Licht erinnerte nicht an die Sonne.
    Endlich wurde der große Türgriff von innen niedergedrückt, und das Tor begann sich langsam, ganz langsam zu öffnen, gerade weit genug, um Tamino einzulassen. Man schien darauf zu warten, daß er eintrat.
    Mit einem inneren Achselzucken – man hatte ihn nicht aufgefordert einzutreten, aber auch nicht befohlen, draußen zu bleiben – trat Tamino ein. Die Tür fiel geräuschlos hinter ihm ins Schloß, und Tamino stand einen Augenblick lang im Dunkeln. Dann wurde es wie zuvor langsam heller.
    Im Dämmerlicht erschien eine Gestalt, die sich aus Luft zu formen schien. Sie tauchte so lautlos auf, daß Tamino sich fragte, ob es vielleicht der böse Zauberer Sarastro selbst sei.
    Aber nein, an einem Ort, an dem es Tempel der Weisheit und der Erleuchtung gab, war Sarastro bestimmt nicht anzutreffen. Und in einem Tempel der Wahrheit, dachte Tamino, erhalte ich wenigstens ein paar klare, vernünftige Antworten.
    Vor ihm stand die ehrwürdige Gestalt eines älteren Mannes.
    Das graue Haar bedeckte eine Kapuze, auf der Tamino das goldene Zeichen der Sonne sah. Der Mann trug ein silber-graues Gewand mit dem Zeichen der Sonne auf der Brust.
    Sein Gesicht ließ sich schwer beschreiben, doch es wirkte sanft und sogar freundlich.
    »Nun, junger Mann«, fragte er, »was suchst

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