Tochter der Nacht
sich in den Kopf setzten – oder was immer sie anstelle von Köpfen hatten, denn Tamino war es bisher nicht gelungen, ihre Gesichter richtig zu sehen –, wieder aufzutau-chen, wollte er sie einfach fragen, wo Papageno sei.
Tamino setzte die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.
Tamino liebte Musik. Zu den Dingen, die er auf dieser Reise am meisten vermißt hatte, gehörten die Abende im kaiserlichen Palast, an denen die Musikanten seines Vaters spielten, sangen und tanzten. Diese Flöte hatte einen ausneh-mend weichen, lieblichen und melodischen Klang; offensichtlich stammte sie aus der Hand eines Meisters. Sie war ein sehr kostbares Instrument, abgesehen von den magischen Eigenschaften, die sie vielleicht besaß. Tamino spielte eine schlichte Hirtenweise aus der fernen Heimat und überließ sich völlig der Musik.
Zu seiner Erleichterung war von den Boten nicht das geringste zu sehen. Doch nachdem er eine Zeitlang gespielt hatte, bemerkte er, wie sich eines der Tempeltore leise öffnete. Im Zwielicht konnte er nur undeutlich große, behaarte Gestalten erkennen, die leise die Stufen des Tempels herunterka-men und sich ihm näherten. Als die Melodie verebbte, verharrten sie regungslos. Tamino sah, daß es Männer waren –
nein, eher Bären. Dichtes, wolliges Haar bedeckte ihre Körper. Ihre Nasen waren so lang, daß man sie als Schnauzen bezeichnen konnte, und sie hatten entstellte Hände – oder waren es Tatzen? Tamino machte große Augen. Dann bemerkte er einen großen, schlanken Mann, der ihn an ein Pferd erinnerte. Lange, spitze Ohren ragten über seinen Kopf und struppiges, tiefschwarzes Haar fiel ihm wie eine Mähne bis in den Nacken. Ein kleines, völlig behaartes Wesen schmiegte sich plötzlich an ihn – ein Biber? Ein Hasen-Halbling? Noch immer strömten weitere Wesen herbei und hörten staunend und verzückt Tamino zu. Er hätte nie für möglich gehalten, daß es so viele Arten von Halblingen gab.
Die größeren, besonders die Bären, machten ihm Angst, denn sie waren so riesig und drängten sich um ihn. Doch am meisten beunruhigte Tamino, daß keines dieser Wesen einen Laut von sich gab. Konnten sie nicht sprechen oder waren sie stumm? Hatten ihre Schöpfer ihnen aus Gedankenlosigkeit oder gar Berechnung keine Stimme gegeben? Auch die kleineren Halblinge fand Tamino bemitleidenswert. Weshalb sollte sich jemand die Mühe gemacht haben, Halblinge zu schaffen, die ein unsinniges Zerrbild der Menschen waren?
Welchen Nutzen konnten diese Wesen haben? Tamino strei-chelte den kleinen Hasen-Halbling, der sich an ihn schmiegte
- und mußte sich in Erinnerung rufen, daß dieses Tier, dieses Spielzeug, ein vernunftbegabtes Wesen war und vermutlich so etwas wie ein Bewußtsein und eine menschliche Seele be-saß. Er sollte es eigentlich – nein! ihn oder vielleicht sie – wie seinesgleichen behandeln…
Aber wie? Ein Wesen wie Papageno hatte wenigstens eine menschliche Gestalt und konnte sprechen – es fiel nicht schwer, ihn als das zu behandeln, was er war: ein menschlicher Geist in einem tierähnlichen Körper. Impulsiv achtete Tamino den Vogel-Mann wie jeden Menschen – intelligent oder einfältig – im Reich seines Vaters. Er war nicht zum Herrschen erzogen worden, doch man hatte Tamino gelehrt, für alle im Reich seines Vaters Verantwortung zu tragen.
Aber sein Vater hatte keine Hasen-Halblinge als Untertanen.
Und er konnte mit dem armen Geschöpf nicht einmal reden, denn es verstand ihn nicht. Man hatte ihm gesagt, Menschen könnte man bilden und erziehen. Aber wie erzog man dieses Wesen? Vermutlich wie ein Haustier, wie eine Katze oder einen Hund. Man richtete es ab.
Aber diese Geschöpfe waren von Menschen, von vernunft-begabten Wesen geschaffen worden! In Taminos Kopf über-schlugen sich die Gedanken. Seine Lippen zitterten, und die Musik brach ab. Die Halblinge gaben leise enttäuschte Laute von sich, doch Tamino brachte es nicht über sich, weiter zu spielen.
Bitter dachte er daran, was die Boten gesagt hatten: Die Flöte wird dir Erleuchtung bringen. Aber er war verwirrter als je zuvor. Weshalb? Was hatte die Menschen von Atlas-Alamesios dazu gebracht, solche Wesen zu erschaffen?
Ein Affe, der mit einer Königin Schach spielen konnte und sogar gewann… ja, vielleicht gab es dafür einen Grund…
selbst für einen Vogel-Menschen, den man als köstlichen Spaß in Vogelfedern kleiden und beauftragen konnte, Vögel zu fangen, aus deren Federn man Ritualgewänder fertigte
Weitere Kostenlose Bücher