Tochter der Nacht
du?«
Tamino stand einen Augenblick stumm vor ihm. Nach drei Versuchen befand er sich endlich im Tempel, aber was wollte er eigentlich hier?
»Die Wahrheit«, erwiderte er schließlich, »denn das verkündet die Inschrift über der Tür.«
Der alte Mann lächelte und sagte: »Es gibt viele Arten der Wahrheit, mußt du wissen. Es ist vielleicht nicht ganz einfach. Selbst wenn ich die Wahrheit sage, bist du vielleicht nicht in der Lage, sie zu hören, und ich könnte sagen, was ich will, es würde in deinen Ohren wie eine Lüge klingen.«
»Darauf lasse ich es ankommen«, erwiderte Tamino, und ihm fiel ein, daß die Boten Papagenos Frage beinahe genauso be-antwortet hatten, als sei er nicht in der Lage, die einfachsten Dinge zu verstehen.
Nun, er war hier ein Fremder, und es war nicht angebracht, sich wegen der hiesigen – merkwürdigen – Sitten beleidigt zu fühlen. Er war auch noch nie von Ottern im Bad bedient worden, und doch war es ein interessantes Erlebnis gewesen.
Vielleicht würde es hier ähnlich sein.
Warum sollte er also nicht die Wahrheit sagen.
»Ich suche einen bösen Zauberer mit dem Namen Sarastro«, erklärte Tamino.
Der alte Mann – Tamino hielt ihn für eine Art Priester – hob die Augenbrauen, sah ihn aber immer noch mild und freundlich an.
»Was möchtest du von Sarastro?« fragte er.
Wenn dies der Tempel der Wahrheit ist und auch der Weisheit und der Erleuchtung, wie er gesehen hatte, dann muß man hier wissen, welche Übeltaten Sarastro in ihrem Bereich begeht, dachte Tamino und antwortete: »Ich bin gekommen, um ein hilfloses Mädchen zu befreien, das dieser Bösewicht gefangenhält.«
Das freundliche und gütige Gesicht des Priesters verändertesich nicht. Sein Ausdruck verriet nur milde Neugier.
»Wer hat dir das gesagt?« erkundigte er sich.
»Die Mutter des Opfers!«
»Und«, fuhr der Priester mit sanfter Stimme fort, »woher weißt du, daß sie dir die Wahrheit gesagt hat? Die Welt ist voller Menschen, die die Wahrheit nicht achten, mein Sohn.«
»Ist es also wahr?« fragte Tamino herausfordernd. »Hat er Pamina entführt oder nicht?«
»Wie ich gesagt habe, mein Sohn, es gibt viele Arten der Wahrheit. Auf einer Ebene stimmt es, was du sagst. Sarastro hat Pamina der Obhut ihrer Mutter entzogen.«
∗ ∗ ∗
»Und Ihr wagt, das zuzugeben?«
»Du kennst Sarastro nicht«, bemerkte der Priester, »und du kennst auch seine Gründe nicht. Wie kannst du so einfach verurteilen?«
»Vielleicht kenne ich Sarastro nicht«, erwiderte Tamino, und seine Stimme klang gegen seinen Willen empört, »aber ich weiß, was er getan hat. Und ich kann richtig von falsch unterscheiden!«
Tamino trat beim Sprechen etwas zurück, denn er war sicher, der alte Priester würde ihn im nächsten Augenblick angreifen. Doch das heitere, alte Gesicht blieb gelassen.
»Ach wirklich? Wirklich?« Ein breites Lächeln zog über das alte Gesicht. »Dann, mein Sohn, weißt du mehr als wir alle hier. Wir sollten den roten Teppich ausrollen und den Balda-chin herbeibringen, der den Göttern vorbehalten ist.« Das Lächeln war so gütig und ohne jede Bosheit, daß Pamino trotz Zorn und Verwirrung am liebsten ebenfalls gelächelt hätte.
Dann sagte der Priester: »Ich wünschte, du würdest aufhö-
ren, Sarastro… oder einen anderen Menschen… zu verurteilen, solange du die Wahrheit nicht mit Sicherheit kennst.
Die Wahrheit ist nicht so einfach, wie es scheint.«
Tamino wurde wieder wütend. Er erwiderte: »Jeder Übeltäter findet eine gute Entschuldigung für seine Untaten! Die Tatsachen sprechen für sich selbst. Welche Entschuldigung kann es dafür geben, eine Tochter aus den Armen ihrer Mutter zu reißen?«
»Ich bin nicht hier, um Sarastro zu entschuldigen«, erklärte der Priester.
»Ach nein? Nichts anderes habt Ihr meiner Meinung nach getan.« Tamino wußte sehr wohl, daß er unhöflich war, aber es kümmerte ihn nicht.
»Jetzt möchte ich dich etwas fragen, nachdem du mir so viele Fragen gestellt hast«, sagte der Priester. »Wer hat dich eigentlich zum Richter über Sarastros Taten und Beweggründe ernannt?«
Jetzt fühlte sich Tamino sicherer. Er erwiderte: »Ich bin ein Fremder in diesem Land und kenne Eure Sitten nicht. Aber in meiner Heimat ist es die Pflicht und das Recht eines Edel-mannes, ein Unrecht gutzumachen und ein Übel zu beseitigen, wenn es ihm zu Ohren kommt. Tut er das nicht, ist er nicht besser als der gemeinste Schuft.«
»Dann sind wir uns zumindest in einem
Weitere Kostenlose Bücher