Tochter der Nacht
einzelne Windböen die Steilwand hinunter, die allerdings nicht mehr stark genug waren, sie mitzu-reißen.
∗ ∗ ∗
Tamino fragte: »Und was jetzt?«
Pamina antwortete mit unsicherer Stimme: »Wir scheinen wenigstens einen Teil vom Element Luft gemeistert zu haben. Aber deshalb sind wir nicht besser dran als vorher.«
Tamino wagte sich vorsichtig bis zum Rand des Vorsprungs, ging auf die Knie und beugte sich darüber, während Pamina mit angehaltenem Atem zusah.
»Hier führt kein Weg hinunter«, sagte er schließlich. »Nach oben klettern können wir aber auch nicht. Ich glaube, dort drüben ist ein Pfad…« Tamino beugte sich soweit vor, daß Pamina fast das Herz stehenblieb. »… aber selbst wenn es ein Pfad ist, müßten wir zuerst hinunterkommen. Klettern können wir nicht, die Wand ist so glatt wie Glas, und zum Springen ist kein Platz.«
»Es muß einen Weg geben«, sagte Pamina. »Ich weiß, die Prüfungen sind gefährlich, doch viele aus der Bruderschaft haben sie bestanden. Und meine Mutter ebenfalls. Ja, sie sind gefährlich, lebensgefährlich sogar, wie wir gesehen haben.
Aber es muß möglich sein, sie zu bestehen. Welchen Nutzen hätten sie sonst? Wenn es anderen gelungen ist, muß es auch für uns einen Weg geben.«
Tamino dachte nach und erklärte: »Ich bin sicher, du hast recht, Pamina. Aber ich kann mir nur schwer einen Ausweg vorstellen. Sollen wir uns Flügel wachsen lassen und hinun-terfliegen, um unsere Meisterschaft über das Element Luft unter Beweis zu stellen? In diesem Fall fürchte ich, hat Sarastro meine Fähigkeiten überschätzt, denn ich bin nicht der Sohn eines Zauberers und habe auch nie gehört, daß in meiner Familie jemand jemals Zauberkräfte besessen hätte.«
»Wenn man von uns Zauberkräfte erwartet«, überlegte Pamina laut, »hätte man sie uns wohl zuerst beigebracht.«
Tamino hielt die Flöte in der Hand und dachte nach. Schließ-
lich sagte er: »Sarastro verabschiedete sich mit den Worten, die Flöte sei eine mächtige Zauberwaffe. Sie besänftigte den Sturm und hat uns vermutlich davor bewahrt, in den Abgrund geschleudert zu werden. Ich will noch einmal spielen und sehen, was geschieht. Sie hat uns bereits geholfen, und niemand hat gesagt, daß wir sie nur einmal benutzen dürfen.
Wenn sie eine Waffe der Luft ist, und man uns keine andere gegeben hat… erwartet man vielleicht von uns, diese Aufgabe mit ihrer Hilfe zu meistern.«
Er setzte die Flöte an die Lippen.
Zuerst spielte er eine langsame und getragene Weise. Pamina blickte zu den Berggipfeln auf und erinnerte sich daran, daß ihr Mantel wie ein Vogel davongeflogen war. Nur ein Vogel konnte von hier entkommen. Welche andere Möglichkeit gab es inmitten dieser himmelhohen felsigen Wände?
Tamino hatte gesagt, daß in seiner Familie niemand magische Kräfte besäße und er nicht der Sohn eines Zauberers sei. Aber sie war die Tochter der Sternenkönigin, und ihr Vater war der mächtigste Zauberer von ganz Atlas-Alamesios.
Eine andere Melodie erklang. Die Töne schienen den kreisenden Wirbeln über den Gipfeln zu antworten, die beinahe sichtbar in den Luftströmungen dahintrieben, tanzten und sich ständig veränderten. Pamina streckte die Arme aus und stellte ohne Überraschung fest, daß ihr an den Fingern lange Schwungfedern wuchsen. Schwarze Federn schienen ihren ganzen Körper zu umhüllen, und sie klammerte sich mit Krallen an den Felsen. Tamino fuhr erschrocken zurück, als sie einen Vogelfuß ausstreckte.
Sie blickte in die beinahe sichtbare Luft vor sich, sah die Windsäulen, die Aufwinde warmer Luft und die verstreuten Wolken, die über die Gipfel zogen. Jetzt kann ich fliegen, und weshalb sollte ich mich mit einem Schwächeren belasten? In Gedanken schwang sie sich hoch in die Lüfte. Der Wind ergriff sie, und sie überließ sich ihm, schwebte dahin in ihrer schwindelerregenden Freude, die Luft zu meistern. Wenn Tamino ihr nicht folgen konnte, hatte er eben Pech, doch er wäre nicht der erste, der die Prüfungen nicht überlebte.
Doch dann durchzuckte sie ein menschlicher Gedanke. Ich habe geschworen, diesen Weg an seiner Seite zu gehen, und er hat mich nicht im Stich gelassen. Eine Erinnerung beschäftigte den Vogel: Tamino schob ihren zarten menschlichen Körper in die sichere Felsspalte, damit sie nicht in die Tiefe geschleudert wurde.
Doch den Vogel erfaßte die betörende Ekstase der Winde; seine Schwingen sehnten sich nach der Freiheit des Himmels.
Pamina wußte, sie
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