Tochter der Nacht
Sturmesschwingen verfolgte. Taminos Gewicht hing immer noch an ihr, zog sie immer tiefer nach unten, so daß sie sich nicht frei bewegen, nicht so schnell fliegen konnte, wie sie wollte.
Pamina! Laß ihn los! Laß ihn fallen! Das geht nur uns beide an, Mutter und Tochter. Er hat mit unserem Streit nichts zu tun…
»Er ist mein künftiger Gemahl«, versuchte sie zu antworten, hörte die Worte aber nur als schrillen, gespenstischen Raub-vogelschrei. Im Reich der Sternenkönigin, im Reich der Luft, konnte sie sich der Mutter nicht stellen und gegen sie kämpfen. Es mußte ihr gelingen, sich in Sicherheit zu bringen.
∗ ∗ ∗
Schnell änderte Pamina die Richtung, flog in die Schatten der Felswände zurück und hoffte, dort Schutz zu finden. Sie glitt tief, tief hinunter in die Bergschluchten und suchte einen Weg in Sarastros Reich, während ihr die verzweifelte Stimme der Mutter in den Ohren klang:
Pamina, Pamina, mein Liebes, warum hast du mich verraten?
Paminas Flügelschläge wurden langsamer, sie erlahmte, und jede Bewegung versetzte ihr glühende Stiche ins Herz. Taminos Gewicht war eine quälende Last. Und da war noch etwas. Unaufhaltsam zog sie die Flöte nach unten; ihr ent-strömten schmerzhafte Lichtfunken, die schwer, schwerer als Taminos Körper an Pamina hingen. Sie schüttelte sich vor Qual und Pein und hörte Taminos Entsetzensschrei. Nein, sie durfte sich nicht befreien; sie mußte diese Bürde tragen, die sie nach unten zog, bis sie schließlich wie ein Stein ins Meer fiel. Pamina sah das Meer schon unter sich. Würde sie hineinstürzen und mit Tamino in seinen Tiefen versinken?
Jetzt flog sie im Schatten der langen Wolke, in der sie das Gesicht ihrer Mutter erkannt hatte, ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen, und sie sah blasse Funken. Aber vor ihr leuchtete ein Licht, das Licht von Sarastros Tempel. In verzweifelter Anstrengung schlug Pamina heftiger mit den Flü-
geln; der Schatten hatte sie fast eingeholt, und sie wußte, wenn er sie völlig bedeckte, würde sie ihm nie mehr entfliehen können. Der Schatten senkte sich, stieß auf sie hinunter.
Pamina flog über ein Lichtband, und plötzlich war der Schatten verschwunden. Sie glitt noch tiefer hinunter und landete auf dem flachen Dach, auf dem sie mit dem Dolch ihrer Mutter gestanden und die Opferprozession gesehen hatte. Die Vogelgestalt fiel von ihr ab, und erschöpft sank Pamina zu Boden. Taminos Körper milderte den Aufprall, und sie spür-te nicht einmal die Hände der Priester, die sie aufhoben.
Achtzehntes Kapitel
Man ließ ihnen Zeit und Ruhe, um sich von den Prüfungen zu erholen. Tamino fürchtete sich fast vor Pamina. Nur zu gut stand ihm der Schrecken über ihre Verwandlung vor Augen, als sie Flügel ausbreitete und zu einem gewaltigen Adler wurde, sich weiter veränderte, wuchs und wuchs, bis sie groß genug war, um ihn davonzutragen und mit ihm aus der Steilwand in Sicherheit zu fliegen…
Wenn er Pamina jetzt ansah, konnte er sie sich nicht mehr in dieser Gestalt vorstellen.
Als Meister der zwei von vier Elementen brauchten sie nicht länger die Gewänder von Novizen zu tragen; nachdem Pamina gebadet hatte, kleidete man sie in ein schweres Gewand aus grobgewebter weißer Seide mit einem braunen und einem blauen Band um die Hüfte. Tamino hatte erfahren, als der Priester ihm einen ähnlichen Gürtel umlegte, daß die Farben für die Elemente Erde und Luft standen. Man hatte Paminas blonde Haare gebürstet und zu einem Zopf geflochten.
Sie sah sehr jung und immer noch sehr kindlich aus. Doch bei der Prüfung der Luft hatte sie sich als mächtige Zauberin erwiesen.
»Ich wußte nicht, daß du dazu fähig bist… ich meine, dich in einen Vogel zu verwandeln«, sagte Tamino unbehaglich.
»Ich auch nicht«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
»Ich glaube, du hättest die Prüfung allein bestanden, Pamina, ich nicht. Du hast mich gerettet, als ich keinen Ausweg mehr wußte.«
Ihre Finger glitten über das Band an ihrer Hüfte, das auch Tamino trug, und sie antwortete: »Nein. Ich hätte nichts tun können, wenn du nicht die Flöte gespielt hättest. Ohne dein Spiel wäre ich mit dir dort zugrunde gegangen. Wir haben die Prüfung gemeinsam bestanden, und das war richtig so.«
Er fühlte sich ganz klein vor ihren arglosen blauen Augen.
Sie war eine mächtige Zauberin, und er? Einen Augenblick lang glaubte Tamino, sie fürchten zu müssen, denn sie war die Tochter der Sternenkönigin und besaß
Weitere Kostenlose Bücher