Tochter der Nacht
unheimliche Kräf-te. Er hatte nicht geahnt, daß sie so stark und mächtig war.
Aber schließlich hatte er sich in Pamina verliebt, noch ehe er sie zum ersten Mal wirklich und leibhaftig sah. Und wenn er sich ihrer würdig erweisen und übernatürliche magische Kräfte erwerben mußte, dann waren die Prüfungen sicher der erste Schritt auf diesem Weg.
Aber Tamino hatte Angst. Die erste Prüfung, die Prüfung der Erde, war so einfach gewesen, doch die Prüfung der Luft hatte sie beide an den Rand des Todes gebracht, und er hätte nie geglaubt, mit dem Leben davonzukommen. Seit seinem Kampf gegen den Drachen im Land der Wandlungen hatte er sich nicht mehr so gefürchtet.
Tamino sah Pamina an. Sie wirkte ruhig, doch wußte er noch gut, wie sie in ihrer Vogelgestalt gezittert hatte, als er sich an sie klammerte. Er war als Prinz erzogen worden und hatte gelernt zu jagen, zu kämpfen und Gefahren zu begegnen, sie aber war eine zarte, junge Frau, die zuvor noch nie auch nur die geringste Gefahr oder Angst gekannt hatte. Er sehnte sich mit ganzem Herzen danach, sie zu beschützen.
Er hatte Pamina die Möglichkeit zur Umkehr geboten und gelobt, ihr nie einen Vorwurf daraus zu machen, doch sie hatte sein Angebot abgelehnt. Also mußte Pamina ihren Weg weitergehen, und sie würden sich den kommenden Prüfungen gemeinsam stellen…
Tamino wünschte, er würde wagen, sie in die Arme zu nehmen. Im tobenden Sturm hatte er es getan, um sie zu schützen, und auch dann wieder bedenkenlos, als ihn Pamina in Vogelgestalt aus schwindelerregender Höhe zur Erde hinunter trug. Selbst jetzt jagte ihm der Gedanke an diesen Flug durch den grenzenlosen leeren Raum, über die Wolken und Berggipfel hinweg, die atemberaubend tief unter ihm lagen, Angst ein. Er hatte sich an sie geklammert – wie in einem Alptraum spürte Tamino immer noch die Federn, und er wünschte nichts mehr, als ihren Körper, ihre Brüste zu be-rühren, um sich zu versichern, daß es nur eine Illusion gewesen war. Er wollte wissen, ob sie den warmen Körper der wirklichen Pamina besaß, die er so liebte.
»Was jetzt?« fragte Tamino laut, und als habe man die Frage gehört – wer weiß, dachte er, vielleicht ist es so –, öffnete sich die Tür, und sein Geleiter kam herein.
»Habt ihr euch erholt, meine Kinder? Ihr habt noch etwas Zeit, niemand verlangt, daß ihr euch neuen Prüfungen stellt, ehe ihr wirklich ausgeruht seid.«
Tamino spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief.
Welche Proben warteten noch auf ihn? Was auch immer, Warten würde sie nicht leichter machen.
»Wenn Pamina soweit ist, ich bin bereit.«
Sie wechselten einen kurzen Blick, als Pamina die Augen hob, und Tamino sah die Angst, die in ihnen stand. Sie hatte bei der letzten Prüfung soviel Kraft und Macht bewiesen, daß es ihm nicht in den Sinn gekommen war, Pamina könnte sich ebenfalls fürchten. Sie hatte wenigstens handeln können, während er alles hatte über sich ergehen lassen müssen. Es war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen, daß Pamina nicht aus Kraft und Zuversicht heraus gehandelt haben könnte, sondern aus Verzweiflung und Angst.
Doch ihre Stimme klang ruhig und fest, als sie sagte:
»Die Prüfung wird durch Warten nicht leichter. Ich bin bereit.«
∗ ∗ ∗
»So sei es denn.« Der Priester hob die Hände zu einer kurzen Anrufung und sprach: »Ich überantworte euch den Prüfungen des Wassers.«
Tamino konnte mit Mühe ein Zusammenzucken unterdrük-ken, als der Priester in die Hände klatschte. Doch diesmal gab es keinen Donnerschlag. Stille umgab sie und ein sehr sanftes Geräusch: der eintönige Klang fallenden Regens.
Stunden später trieb Tamino hilflos und ohne Ziel dahin; Wasser drang ihm in die Augen, in den Mund, und das Klatschen und Brausen der hohen Wellen betäubte ihn. Natürlich. Die Prüfung der Luft hatte sie unvorbereitet dem Ansturm der Winde in der Felswand ausgesetzt. Doch jetzt füll-te Salzwasser seinen Mund…
Tamino versuchte zu schwimmen. Neben ihm trieb hilflos Pamina und kämpfte gegen den Ansturm der Wellen. Unwillkürlich griff er nach ihr und hielt ihren Kopf über Wasser.
Pamina keuchte, prustete, rang nach Luft und hustete, dann stieß sie sich ab und schwamm neben ihm. Die Haare klebten ihr im Gesicht und sie schüttelte sie heftig, um wieder sehen zu können.
»Ich will dich nur warnen«, keuchte Pamina, und Tamino wunderte sich, daß er durch das Tosen der Wellen ihre Stimme so deutlich hörte. »Selbst wenn du
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