Tochter der Nacht
mußte schnell handeln, sonst würde der Geist der Vogelgestalt, die sie angenommen hatte, ihre menschliche Erinnerung auslöschen, und sie würde nicht mehr an Tamino denken können. Sie öffnete den Mund – den Schnabel –, doch sie stieß nur einen hohen Adlerschrei aus.
Enttäuscht schlug sie mit den Flügeln. Sie hatte die menschliche Sprache verloren. Sie wollte mit den Krallen nach ihm greifen, aber Tamino wich entsetzt zurück, und sie fürchtete, er würde über den Rand in den Abgrund stürzen. Sie konnte sich mit ihm nicht verständigen, und die Felsplatte war für sie beide auf die Dauer nicht groß genug.
Wenn er sich doch nur an die Flöte erinnern und ihr vertrauen würde…
Wie als Antwort auf diesen Gedanken setzte Tamino die Flöte an seine Lippen und begann zu spielen. Für Paminas geschärfte Sinneswahrnehmungen klang die Musik fast uner-träglich laut. Doch dann hörte sie zu ihrem Erstaunen Worte in den Tönen. Das sollte mich nicht überraschen, dachte sie, die Zauberflöte ist das Instrument der Luft.
»Geliebte Pamina, bist du es wirklich? Fliege davon, rette dich! Ich besitze keine Zauberkräfte, und wenn ich schon den schrecklichen Abstieg über die Felsen versuchen muß, dann belastet mich dabei wenigstens nicht die Angst um deine Sicherheit. Vielleicht solltest du die Flöte mit dir nehmen, denn wenn ich abstürze, wird die Flöte nicht mit mir fallen und zerbrechen.«
»Nein!« ertönte es in einem langgezogenen, schrillen Schrei.
Pamina wagte nicht, mit den Flügeln zu schlagen, aus Furcht, Tamino über den Rand zu stoßen. Sie breitete die Schwingen aus, spürte, wie sie länger und länger wurden; ihr Körper wuchs, und in verzweifeltem Aufbegehren zwang sie ihm aus tiefstem Herzen die Worte auf: Tamino! Halte dich an mir fest. Schlinge deine Arme um meinen Hals!
Hatte er sie verstanden? Tamino bückte sich und riß einen Streifen von seinem Gewand ab – seinen Mantel hatte der Sturm ebenfalls davongetragen. Schnell wickelte er ihn um die Flöte und befestigte sie an seinem Gürtel. Ängstlich stellte er sich vor Pamina und legte ihr die Arme um den Hals. Sie konnte seine Hände durch ihre Federn nicht spü-
ren, doch als sie annahm, er habe sich an ihr festgeklam-mert, breitete sie die großen Flügel aus und erhob sich in die Luft.
Er war schwerer, als sie geglaubt hatte, und Pamina spürte, wie sie sank und sank. Sie schlug heftig mit den Flügeln, um Höhe zu gewinnen. Dann erfaßte sie ein Luftstrom und trieb sie nach oben. Höher und höher stieg sie, bis über die Gipfel der Berge. Einen Augenblick lang sah Pamina nach unten, und vor ihren scharfen Vogelaugen breitete sich ganz Atlas-Alamesios aus. Dort lag es, von der Stadt ihrer Mutter bis zum Tempel des Sarastro und zu den glühenden Wüsten im Land der Wandlungen, wo sie noch nie gewesen war.
Zuerst glaubte sie, eine Wolke ziehe über den Himmel, eine lange dunkle Wolke, die an schleppende Flügel erinnerte.
Pamina flog auf diese Wolke zu, die sich wie der lange Schatten eines Geiers über Sarastros Stadt breitete, und achtete kaum mehr auf Taminos Gewicht, der sich an ihren Hals klammerte. Dann hörte sie die Stimme:
»Pamina, Pamina, mein liebes Kind…«
Die Stimme ihrer Mutter! Jetzt sah Pamina, daß die Wolke sich wie ein dunkles Gewand hinter einem blassen Glanz herzog, in dem sie die geliebten Züge der Mutter entdeckte.
Die Sternenkönigin flog neben ihr. Sie flogen Seite an Seite.
»Du hast gelernt zu fliegen, du hast dein Erbe als meine Tochter und Thronfolgerin angetreten, teures Kind. Komm, wir wollen zusammen in meine Stadt zurückkehren.«
Aus alter Gewohnheit schlug Pamina gehorsam diese Richtung ein.
»Was für eine erbärmliche Last hängt an deinem Hals? Wirf ihn ab, mein Kind, ihn wirst du in meiner Stadt nicht mehr brauchen. Aber gib mir zuerst die Flöte, sie gehört mir. Man hat mich durch eine List dazu gebracht, sie diesem Verräter zu geben, der schwor, dich zu retten und zu mir zurückzubringen. Sarastro hat nicht das geringste Anrecht darauf.«
Nein? Er hat sie doch geschnitzt, Mutter! Er hat aus ihr das Zauberinstrument gemacht, das sie ist. Und du hast sie bei deiner Flucht aus seinem Tempel gestohlen! Pamina fragte sich nicht, woher sie das alles wußte.
Pamina hörte den Schrei eines Adlers, die zornbebende Stimme ihrer Mutter, und wußte nur noch, daß sie umkehrte, sich dem Wind anvertraute und vor dem unheimlichen Schatten des Wolkenvogels floh, der sie mit
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