Tochter der Nacht
wollen«, entgegnete Tamino; ihm war der argwöhnische Blick der Robben-Frau auf die Flöte nicht entgangen.
»Du hast uns damit gerufen, und mir blieb keine andere Wahl, als zu kommen.«
Und plötzlich fielen Tamino wieder die vielen Halblinge ein, die sich um ihn geschart hatten, als er auf den Stufen des Tempels spielte. Die Flöte besaß – wie Papagenos Zauberglöckchen – Macht über die Halblinge.
Doch worin bestand die Prüfung? Sollte er seine Macht beweisen und den Halblingen dieses Elements seinen Willen aufzwingen? Wenn er die Flöte spielte und von der Robben-Frau verlangte, sie ans Ufer zu bringen, sie wäre bestimmt nicht in der Lage, sich zu weigern. Ihm entging nicht, daß Pamina die Kräfte verließen. Noch schwamm sie klaglos neben ihm, aber in ihren Augen konnte er die Anstrengung lesen, und ihre Bewegungen wurden langsamer.
»Ich kann schwimmen«, sagte er, »aber ich weiß nicht, wo das Land liegt. Trotzdem…« Tamino überlegte. Was erwartete man von ihm? Die Robben-Frau hatte sich etwas treiben lassen und schwamm jetzt in Kreisen um die beiden herum.
Ganz in ihrer Nähe tauchte ein anderer Kopf aus dem Wasser, ein Gesicht wie das ihre, nur größer und breiter und mit einem dichteren Schnurrbart. Schaudernd dachte Tamino daran, daß männliche Robben bis zu viermal größer als weibliche waren. Vielleicht traf das auf Robben-Halblinge ebenfalls zu? Tamino umklammerte die Flöte. Konnte er sich mit ihrer Musik gegen die Halblinge wehren, falls sie ihn angreifen würden?
Und wieder hörte er den pfeifenden Gesang. Dann teilte sich das Wasser, und drei glatte, unbehaarte graue Gestalten sprangen hoch aus den Wellen und drängten sich zwischen ihn und Pamina. Ein Mann, noch ein Mann und eine Frau; und sie waren alle drei nackt, hatten große runde Augen und riesige Nasen und glitten scheinbar mühelos durch die Wellen, verständigten sich mit durchdringenden Pfeiflauten in einer Sprache, die Tamino nicht verstand, und einer der Männer fragte die Robben-Frau: »Schwester, was sind das für Leute, und was wollen sie im Reich der freien Völker des Meeres?«
Tamino hörte die Drohung in den Worten. Ein Halbling, ein Delphin-Halbling, der noch nie etwas mit Menschen zu tun gehabt hatte; das verriet sein Kopf, den er stolz aus dem Wasser hob.
»Menschen«, sagte er, »es besteht ein Alter Krieg und ein Alter Vertrag zwischen uns und euch. Habt ihr das vergessen? Wir haben die Freiheit von euch errungen und müssen nicht länger in den stehenden Gewässern eures Landes leben. Wir sind nicht mehr Sklaven eurer schrecklichen Flöten, die uns zwangen, Edelsteine und Perlen aus den verborgenen Gründen des Meeres zu holen. Dafür haben wir geschworen, nie mehr Nahrung von euch zu nehmen, weder in guten oder schlechten Zeiten, noch euch jemals darum zu bitten. Ihr habt uns das Versprechen gegeben, nichts mehr von uns zu verlangen, so wie wir nichts mehr von euch fordern. Um unseren guten Willen zu beweisen, haben wir die großen Haie vernichtet, die eure Strände bedrohen, damit eure Kinder sich dort gefahrlos tummeln können. Und als weiteren Beweis unseres guten Willens teilen wir uns mit euch die Fische des Meeres. Weshalb mißachtet ihr diese Ver-einbarung und dringt in unsere Welt ein? Ihr wißt genau, daß wir uns nicht gegen die Flöte wehren können, die du in der Hand hältst. Wenn du sie spielst, kann sich niemand von uns im Meer deinen Befehlen widersetzen.«
»Das wußte ich nicht, glaube mir«, sagte Pamina. »Wir hatten nicht die Absicht, euch Befehle zu erteilen, als wir euch riefen.« Sie rang nach Luft und griff nach Tamino.
»Weshalb seid ihr dann hierhergekommen?« wollte der riesige Delphin-Mann wissen. »Ihr befindet euch in unserem Reich, nicht wir in eurem«, grollte er und schwamm schnell und angriffslustig auf Tamino zu, den plötzlich eine große Welle unter sich begrub. Als er wieder auftauchte, blinzelte er, weil ihm das Salzwasser in den Augen brannte.
Dann sah er, daß Pamina sich kaum noch über Wasser halten konnte, und setzte schnell die Flöte an die Lippen. Die Halblinge hatten es selbst zugegeben, die Flöte besaß Macht über sie, und er konnte zumindest Pamina schützen, wenn er spielte. Er wollte den Halblingen bestimmt nichts tun, aber glaubten sie wirklich, er würde ruhig zusehen, wie Pamina etwas zustieß?
Ein mächtiger Robben-Mann glitt pfeilschnell auf sie zu. Tamino packte die Flöte, hob sie ihm abwehrend entgegen, dann schwamm er zu Pamina und
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