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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Hongkong. (Wir waren sechs Monate lang regelmäßig vorstellig geworden und hatten dringend gebeten, die Sachen rechtzeitig zu unserem Abreisetermin fertig zu haben. Morgen haben wir noch die letzten Termine. Wenn wir unsere Papiere nicht bekommen, funktioniert überhaupt nichts.) Sobald wir in Kanton sind, wird Z. G. Tao auf der Messe beschäftigen, damit wir anderen uns heimlich davonmachen und den Zug nach Hongkong nehmen können. Wenn wir dort ankommen, gehen wir zu Mays Hotel.
    Das hört sich einfach an, aber es müssen noch viele Hindernisse überwunden werden. Was, wenn jemand Verdacht schöpft – in der Arbeitseinheit meiner Mutter, bei der Künstlervereinigung, in unserem Haus oder bei Z. G.? Deshalb müssen wir konzentriert bleiben, uns nicht von Angst überwältigen lassen und weitermachen.
    Während die anderen Z. G. helfen, seine Drachen einzuholen, pflücke ich noch Blätter von den Ulmen und sammle ein bisschen Gras. Das wird eine hübsche Zutat für die Mahlzeiten morgen.

J OY
    Der Herzschlag der Künstlerin
    M ontagmorgen, der Hochzeitstag meiner Mutter. Meine Mutter und Dun helfen mir, das Frühstück für unseren Haushalt zuzubereiten. Die Mieter sitzen um den Küchentisch, diskutieren und tauschen den neuesten Klatsch aus. Meine Stellung hier im Haus hat sich seit meinem Einzug verändert. Anfänglich hatte meine Anwesenheit die Mieter in Angst versetzt. Ich hatte keine Aufenthaltserlaubnis, keine Arbeitseinheit, keine Lebensmittelbezugsscheine. Ich war halb tot und hatte noch zwei zusätzliche Mäuler dabei, die gestopft werden mussten. Man brachte mir weder Mitleid noch Freundlichkeit entgegen, bis auf Koch, der meine Mutter eindeutig liebt und deshalb auch ihre Tochter und ihre Enkelin. Glücklicherweise war er der Einzige, auf den es wirklich ankam, denn er hatte das Sagen im Haushalt und erstattete dem Blockkomitee Bericht, das die Information an das Nachbarschaftskomitee weiterreichte und es wiederum an höhere Stelle übermittelte. Jetzt hält er Samantha im Arm und gibt ihr die Flasche. Bald wird er sie jemand anderem am Tisch übergeben. In ein paar Wochen hat sie ihren ersten Geburtstag, aber sie ist immer noch beängstigend klein – eine ständige Erinnerung daran, dass in diesem Land etwas nicht stimmt.
    Die Mehrheit der Stadtbewohner begreift nicht in vollem Umfang, was auf dem Land los ist. Sie haben Gerüchte gehört, können sie aber nicht in Einklang bringen mit den Geschichten über Kommunen, in denen das Getreide bis zum Himmel wächst, mit offiziellen Regierungsberichten über die sogenannten Jahre des schlechten Wetters, die die Felder des Überflusses zerstört haben, und dem, was sie auf den Straßen von Shanghai sehen, wo es sich nicht verheimlichen lässt, wie die Leute aussehen, die in langen Schlangen anstehen, um für ihre Bezugsscheine Lebensmittel zu bekommen. Sie bewegen sich gerade vom ersten Stadium der Unterernährung – dem Gewichtsverlust – zum zweiten Stadium, den Ödemen. Sie bekommen Schwellungen am Hals und im Gesicht. Wenn sich die Leute begrüßen, drücken sie einander den Daumen in die Stirn, um zu sehen, wie tief die Delle ist und wie lange sie bleibt. Alle laufen in einem teilnahmslosen Dämmerzustand herum. Trotzdem beklagt sich keiner, niemand revoltiert. Nur wenn die Menschen wirklich Hunger leiden, kann man sie sich unterwerfen.
    Doch die Bewohner dieses Hauses haben mit eigenen Augen die Auswirkungen der Unterernährung gesehen. Jetzt sind sie froh, dass ich da bin, denn mir ist klar, was auf uns zukommt, und ich weiß, wie man überlebt. Genau wie meine Mutter. Ihr Geld und ihre Sondergutscheine für Überseechinesen haben uns geschützt, und wir konnten zu völlig überhöhten Preisen Vorräte besorgen. In Shanghai, wo traditionell süß gegessen wird, ist Zucker wertvoll. Fleisch gibt es kaum, und es ist sehr teuer. Für ein Viertel eines Schweinekoteletts muss meine Mutter fünfzig yuan oder fünfundzwanzig Dollar bezahlen. Lebensmittel, die früher zwei oder drei yuan gekostet haben, kosten derzeit umgerechnet fünfunddreißig Dollar. Sie besorgt verwelkte Kohlköpfe und anderes minderwertiges Gemüse von Bauern, die sich irgendwie an den Kontrollen vorbeigemogelt haben und ihre Waren in dunklen Gassen verkaufen. Einmal zahlte sie einen lächerlich hohen Preis für ein Huhn und meinte: »Du musst kräftig sein, wenn unser Plan funktionieren soll.« Aber all das genügt nicht, um die zehn Menschen, die jetzt in dem Haus wohnen, satt zu

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