Tochter des Glueck
sich meine Zeichnung an. »Man kann dir nicht vorwerfen, dass du das tiefere Wesen des Bambus nicht erfasst hättest, aber du musst aufpassen, dass du dein eigenes Ich nicht zu sehr ausdrückst und nicht zu viel mit der Tusche spielst. Mit nur wenigen einfachen Strichen kannst du das Spirituelle an diesem Thema erwecken. Du sollst die Natur heraufbeschwören, nicht kopieren.«
Ich bin enttäuscht, dass ich ihn nicht beeindruckt habe, und schäme mich, dass er mich vor den anderen kritisiert. Meine Wangen glühen, und ich halte den Blick gesenkt.
Z. G. geht weiter zu Tao. »Im hsi-yi -Stil der freihändigen Pinselführung bist du sehr gut«, sagt er. »Hattest du schon einmal woanders Unterricht, Genosse Feng?«
»Nein, Genosse Li. Ich benutze zum ersten Mal einen Pinsel.«
»Sei nicht so bescheiden, Tao!«, ruft wieder die alte Frau aus der ersten Reihe. Sie winkt Z. G. zu sich. »Schon als kleiner Junge hat uns Tao mit dem erfreut, was er in die Erde gemalt hat.«
»Als er dann älter wurde«, fügt jemand anders hinzu, »haben wir ihm Papier und eine Tasse Wasser zum Üben gegeben. Der Finger diente ihm als Pinsel. Wenn das Wasser das Papier tränkte, sahen wir für ein paar Sekunden Berge, Flüsse, Wolken, Drachen, Felder …«
»Und sogar das Gesicht des Metzgers!«, ruft noch ein anderer begeistert. »Dann hat sich das Wasser verflüchtigt, und Tao hat von Neuem angefangen.«
Z. G. steht da, betrachtet Taos Bild, knetet sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und scheint dem Gekrähe der Dorfbewohner gar nicht zuzuhören. Nach einer langen Weile blickt er auf. »Das reicht für heute.« Als die anderen aufstehen und der Reihe nach hinausgehen, klopft Z. G. Tao anerkennend auf die Schulter. Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man sich nur selten berührte, deshalb verblüfft mich Z. G.s Geste. Als Reaktion auf dieses überraschende Lob verzieht Tao den Mund zu dem gleichen breiten und strahlenden Lächeln, mit dem er uns bei unserer Ankunft begrüßt hat.
Ich sammle alle Bilder ein. Sie sind fürchterlich, mit großen Tuscheklecksen und ohne jedes Feingefühl. Ich fühle mich gleich viel besser wegen meines Bilds, bis mir Z. G.s hartes Urteil wieder einfällt. Warum musste er so gemein sein, und auch noch vor allen anderen?
Die Sonne geht hinter den Hügeln unter und färbt alles golden, während wir mit Tao und Kumei zurück zum Hofhaus gehen. Am Eingangstor verabschiedet sich Tao. In diesem Dorf tragen zwar alle denselben Clannamen, aber ich dachte, Kumei und Tao wären vielleicht verheiratet. Irgendwie bin ich erleichtert, ja, es kribbelt sogar ein bisschen, als ich erfahre, dass sie es nicht sind. Z. G. folgt Kumei durch das Tor, aber ich bleibe noch kurz stehen, um Tao nachzublicken, wie er den Weg weitergeht, eine Steinbrücke überquert und den Hügel hinaufläuft. Dann drehe ich mich um und betrete das Hofhaus. Mein Koffer steht immer noch im vorderen Hof. Ich nehme ihn und folge den anderen tiefer in das Anwesen hinein. Zum ersten Mal wird mir wirklich bewusst, was Hofhaus bedeutet. Ich war noch nie in so einem Gebäude. Vor ein paar hundert Jahren muss es schön und modern gewesen sein, aber mir – einem Mädchen aus Los Angeles – kommt es relativ primitiv vor. Schmale gepflasterte Wege und Korridore verbinden eine Reihe von Höfen, die von zweistöckigen Holzgebäuden umrahmt werden. Das ist ziemlich verwirrend, und ich verliere sofort die Orientierung.
Wir folgen Kumei in die Küche, aber so eine Küche habe ich noch nie gesehen. Es ist eine Freiluftküche ohne Dach, was an diesem stickigen Abend sehr angenehm ist. An der einen Wand befindet sich ein großer, aus Ziegeln gemauerter Herd, eine weitere Mauer ist nur hüfthoch. Ich werfe einen Blick darüber. Dahinter sind ein leerer Trog, etwas schmutziges Heu und eingetrockneter Schlamm.
»Wir mussten unsere Schweine dem Kollektiv übereignen«, erklärt Kumei, als sie bemerkt, dass ich mich dafür interessiere.
Schweine in der Küche? In einem Hofhaus? Ich versuche, schlau zu werden aus dem, was ich sehe. Das ist alles ganz anders als in China City. Werden wir hier essen? Es sieht ziemlich schmutzig aus – wie es draußen unter freiem Himmel eben ist. Wir sind praktisch im Freien, und ich habe noch nie in meinem Leben gezeltet.
Z. G. und ich setzen uns auf Bänke, die aussehen wie Sägeböcke. Sie stehen vor einem groben Holztisch. Kumei schöpft Schweinefleischreste und mit Chili gewürzte Gemüsesuppe in unsere Schalen. Es
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