Tochter des Glücks - Roman
malen, Partys und politische Versammlungen für Z. G., arbeiten, am Leben in meinem Haus teilnehmen, Inspektor Wu auf der Polizeiwache besuchen, politische Umerziehung und ein bisschen Zeit in meinem Garten für mich. Z. G. und ich treffen uns immer noch ab und zu. Wir sind jetzt endlich das geworden, was wir immer hätten sein sollen – gute Freunde, wie Bruder und Schwester.
Im Moment sitze ich auf der Treppe vor dem Haus meiner Familie und lasse mir von den letzten Sonnenstrahlen des Tages das Gesicht wärmen. Die ersten Rosen des Jahres sind aufgeblüht. Dun und die anderen Mieter lachen drinnen. Ich halte zwei Briefe in der Hand: einen von May, einen von Joy. Zuerst mache ich Mays Brief auf und finde darin zwanzig Dollar. In ihrem Brief wurde nichts zensiert, und offenbar hat auch niemand das Geld genommen. Wir scheinen uns in einer Phase der Offenheit zu befinden, aber das könnte sich gleich morgen wieder ändern. Ich stecke den Geldschein in die Tasche und öffne Joys Brief – mein Bonbon an diesem Tag.
Ich bin schwanger.
Diese Nachricht nehme ich mit ausgesprochen gemischten Gefühlen entgegen. Ich freue mich wahnsinnig, dass ich Großmutter werde – wer würde das nicht tun? –, aber ich mache mir Sorgen um meine Tochter. Ist sie gesund? Wird sie eine Geburt in der Kommune gut überstehen? Doch am wichtigsten ist die Frage: Ist sie glücklich? Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie es ist. Aber das reicht mir nicht. Ich will sie sehen. Ich möchte Teil dieses wunderbaren Moments sein. Ich möchte Geschenke bringen, und ich denke schon darüber nach, was ich für Joy, das Baby und sogar all die anderen Kinder in ihrem Haushalt machen und kaufen kann. Morgen werde ich Inspektor Wu besuchen und um eine Reiseerlaubnis bitten, aber zuerst muss ich Z. G. die Neuigkeit überbringen.
Ich gehe in mein Zimmer, ziehe mich um und fahre mit dem Bus zu ihm. Ich rechne damit, warten zu müssen, bis er von irgendeiner Party zurückkehrt, aber er ist zu Hause – welch nette Überraschung!
»Joy bekommt ein Baby«, verkünde ich. »Ich werde Großmutter, und du wirst Großvater.«
Ich versuche, die Gefühle zu interpretieren, die sich in seiner Miene spiegeln, aber vergeblich.
»Ich bin gerade eine Sprosse auf meiner Lebensleiter hinaufgeklettert«, fahre ich fort. »Und du genauso.«
»Großvater? Ich bin doch erst seit Kurzem Vater.« Er versucht, es ins Lustige zu ziehen. Vielleicht fühlt er sich in Anbetracht dieser Nachricht auch unwohl. Großvater zu sein, passt womöglich nicht zu seinem Selbstbild als Junggeselle und Lebemann. Dann sagt er: »Wie wunderbar! Großvater!« Er lacht, und ich lache mit ihm.
Später fährt mich Z. G.s Fahrer in der Limousine »Rote Fahne« nach Hause. Ich verabschiede mich und betrete mein Haus. Ich hole mir Briefpapier und suche mir einen Platz im Salon, wo ich mich hinsetzen kann. Dun sitzt mir gegenüber, er liest Arbeiten von Studenten. Wie immer verblüfft mich die Würde, die er in diesen schweren Zeiten bewahrt. Seine gelassene, gesittete Art beruhigt mich. Die beiden ehemaligen Tänzerinnen lauschen einer Abendsendung im Radio, ohne sich bewusst zu sein, dass sie die Füße im Takt zur Musik bewegen. Koch döst in einem anderen Sessel. Der Schuster rumort in seiner Behausung unter der Treppe. Die Polizistenwitwe sitzt im Lotossitz auf dem Boden und strickt einer ihrer Töchter einen Pullover.
Ich schreibe Joy, wie erfreut und aufgeregt ich bin. Ich frage sie, ob sie etwas braucht und wann ein guter Zeitpunkt für einen Besuch wäre. Ich verschließe den Brief und lehne mich zurück, um nachzudenken, bevor ich May schreibe. Vor Kurzem bin ich dreiundvierzig geworden. In meinem Leben gab es viele schreckliche Tage, ich habe viel Leid erfahren und mich in all der Zeit sehr geändert, aber nun werde ich Großmutter. Ich lasse das Wort in mein Bewusstsein dringen und mein Herz erfüllen. Großmutter! Ich lächle vor mich hin, dann setze ich den Stift aufs Papier.
Liebe May,
ich werde yen-yen. Das bedeutet, auch Du wirst yen-yen. Morgen sehe ich mich in den Geschäften danach um, was ich Joy zur Vorbereitung schicken kann. Ich werde versuchen, etwas Babynahrung zu kaufen, wie das Milchpulver, das wir Joy nach ihrer Geburt gegeben haben. Vielleicht kannst Du ihr auch direkt welches schicken, und auch ein Babythermometer, Windelnadeln und Fläschchen.
Wird May begreifen, was ich da sage? Selbst nachdem Joy geheiratet hatte, glaubte ich irgendwie noch, sie würde am Ende
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