Tochter des Glücks - Roman
Inspektor Wu über alles Bericht erstattet. »Im Moment gibt es keine Hoffnung auf eine Reisegenehmigung«, sagt er mir, als ich ihn besuche. »Warte ab. Führe dich gut. Dann bekommst du vielleicht rechtzeitig zur Geburt deines Enkelkinds eine Erlaubnis.«
Ich bin unheimlich aufgebracht, aber was kann ich schon tun?
Es war dumm von mir, die Schnipsel von May und mir, die ich von den Wänden abgerissen hatte, in der Schachtel unter meinem Bett aufzubewahren, und ich muss sie auf eine Art und Weise loswerden, mit der ich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenke. Als Joy noch klein war, habe ich für sie gestrickt und genäht, und nun bin ich auf etwas Neues gekommen: Ich will Schuhe für sie und ihre Familie machen. Damit werde ich den Mietern, die sich über mich beschwert haben, beweisen, dass ich dieses Papier als gute und genügsame Sozialistin gesammelt habe und unseren Genossen in den Kommunen eng verbunden bin. Ich habe zwei Freunde hier im Haus und beschließe, sie um Hilfe zu bitten. Am darauffolgenden Sonntag wende ich mich zuerst an Dun. Mittlerweile verlasse ich mich in vielen Dingen auf ihn, und er freut sich wie immer, mich an seiner Tür zu sehen.
»Wir beide verstehen uns wirklich gut«, beginne ich. »Du hast mir all die Orte gezeigt, an denen noch der Geschmack der Vergangenheit zu finden ist.«
Das stimmt: das letzte weißrussische Café in der Stadt, in dem es Borschtsch gibt, einen kleinen Laden, der Sahne verkauft, aus der ich Butter machen kann, einen Flohmarkt, auf dem es Backformen gibt, mit denen ich selbst Brot backen kann.
»Ich bin gerne mit dir zusammen«, sagt er. »Wenn du Lust hast, könnten wir gemeinsam noch mehr unternehmen.«
»Sehr gerne«, antworte ich. Dann erzähle ich ihm von meinem Projekt.
»Wunderbar!«, sagt Dun. »Aber weißt du denn, wie man Schuhe macht?«
»Nein, aber Koch weiß es.«
Obwohl Koch zuließ, dass ich vom Blockkomitee kritisiert wurde, liebt er mich sehr, das weiß ich. Wenn ich es mir recht überlege, hat er vielleicht die Kritik gegen mich vortragen lassen, damit ich nicht irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt noch heftiger angegriffen würde, was womöglich gefährlicher wäre. Vielleicht hat Koch wegen der Geburt des Babys vorausgedacht. Denn wie viele Reisegenehmigungen kann eine Person schließlich bekommen?
Ich hole die Schachtel unter meinem Bett hervor, dann gehen Dun und ich hinunter in die Küche. Da es Sonntagnachmittag ist, sind die meisten Mieter ausgegangen – sie machen Schaufensterbummel, besuchen Freunde und Verwandte, gehen am Bund spazieren –, aber Koch ist zu Hause, denn er ist zu alt und gebrechlich für Ausflüge. Er schenkt mir ein zahnloses Lächeln und steht auf, um Teewasser für sein kleines Fräulein aufzusetzen.
»Direktor Koch.« Ich benutze die förmliche Anrede. »Als ich ein kleines Mädchen war, hast du hier auf dem Küchentisch Sohlen für Schuhe gemacht. Erinnerst du dich daran?«
»Ob ich mich erinnere? Aiya! Ich erinnere mich, wie böse deine Mama auf mich war. Die Unordnung hat sie gestört. Sie hat gesagt, sie würde mir ein Paar Schuhe von Herrn Chin schenken, wenn ich endlich aufhören würde, in ihrer Küche Reispaste anzurühren …«
»Könntest du uns vielleicht zeigen, wie man Sohlen macht? Ich würde gerne Schuhe machen, um sie Joy und den Kindern in ihrer Familie zu schicken. Die meisten von ihnen haben keine Schuhe.«
Ich öffne die Schachtel und schütte die Schnipsel von May und mir auf den Tisch. Wieder grinst mich Koch mit seinem zahnlosen Mund an. »Schlau, kleines Fräulein, sehr schlau.«
Koch steht auf und rührt eine Paste aus Reis an. Dann zeigt er Dun und mir, wie man das Papier Schicht um Schicht in einem zeitaufwendigen Prozess übereinanderklebt, um eine Sohle herzustellen. Zum Schluss muss man dann Stoff an die Sohlen annähen, das werde ich später in meinem Zimmer machen. Die Arbeit könnte sehr langwierig und mühsam sein, aber wir machen eine Art Spiel daraus: Wir raten, welche Münder, Augen, Ohren und Finger von May sind und welche von mir. Dun ist besonders geschickt darin, Teile von mir in dem Haufen zu entdecken, was mich sehr freut.
»Die Papiersammler aus der Feudalzeit wären sehr aufgebracht, wenn sie sähen, was wir hier machen«, sagt Dun. Ich beobachte seine Finger, während er eine meiner Nasen aufnimmt, sie mit Leim bepinselt und auf die Sohle klebt, die er für Jie Jie, Taos älteste Schwester, macht.
Lächelnd schüttle ich den Kopf. Er kann
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