Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
nichts dafür. Er ist durch und durch Professor. »Worüber denn?«, frage ich. »Dass wir Schuhe machen oder darüber, diese seltsamen Papierschnipsel zu verwenden?«
    »Beides«, antwortet er. »Zeigt eine Papiersohle Achtung vor beschriftetem Papier? Keineswegs! Man sollte nie auf beschriftetes Papier treten.«
    »Aber hier sind nicht überall Buchstaben darauf«, weise ich ihn hin. Das stimmt auch. Auf einigen der Schnipsel ist zwar Schrift, doch die Kalendermädchenplakate waren meistens unten oder an den Seiten beschriftet.
    »Trotzdem war das Ganze als Werbung gedacht«, antwortet Dun. »In früherer Zeit hätte das als bewusster Akt der Missachtung gegolten. Unser Leben hätte um fünf Jahre verkürzt werden können …«
    »Zehn Jahre!«, verbessert ihn Koch.
    »Weil wir ins Gefängnis gekommen wären?«, frage ich.
    »Nichts so Banales«, entgegnet Dun. »Vielleicht würde dich der Blitz treffen. Vielleicht würdest du Triefaugen bekommen oder erblinden oder in deinem nächsten Leben blind geboren werden …«
    »Ich erinnere mich an eine Frau in meinem Dorf, die Münzen in ihren Strümpfen versteckte«, erzählt Koch. »Auf den Münzen standen Wörter. Sie stolperte, fiel in einen Brunnen und war tot.«
    »Und mir fällt eine Warnung meiner Mutter ein, die sie mir als Junge gegeben hat«, fügt Dun hinzu. »Sie sagte: ›Wenn du das Feuer mit beschriftetem Papier anschürst, bekommst du zehn Strafpunkte in der Unterwelt und Söhne mit Krätze.‹«
    »Als Papier sammlerin sollte ich ja dann eine sehr hohe Belohnung verdient haben«, sage ich.
    Dun nickt. »Meine Mutter hat immer gesagt, wer durch die Straßen streift und beschriftetes Papier sammelt, aufbewahrt, rituell verbrennt und dann ins Meer streut, bekommt fünfhundert Pluspunkte, zwölf Lebensjahre mehr und wird wohlhabend und geachtet. Seine Kinder, Enkel und Urenkel werden ebenfalls tugendhaft sein und ihren Eltern Respekt erweisen.«
    Ich klebe mehrere Papierfinger über die Stelle, an die wahrscheinlich der Spann für Joys Schuh kommt. »Ich ziehe lediglich Papier von Wänden ab und säubere die Gassen davon«, gebe ich zu. »Vielleicht erweise ich also beschriftetem Papier gar keine Achtung. Trotzdem glaube ich, dass es gut ist, was wir gerade tun. Joy wird vielleicht nie erfahren, was hier übereinandergeklebt wird, aber sie wird hoffentlich meine Liebe spüren.«
    Eine Weile arbeiten wir in einträchtigem Schweigen, bis Dun plötzlich sagt: »Ich habe eine Idee! Wofür ist Papier gut? Für Anzeigen natürlich.« Seine Hand verharrt über dem Tisch, auf dem die Augen, Münder, Nasen, Finger und Ohrläppchen von May und mir in kleinen Stapeln liegen. »Aber was noch?«
    »Man kann es verbrennen, um sich warm zu halten«, sagt Koch vorsichtig. »Man kann darunter schlafen. Oder darauf.« Er ist wirklich durch und durch rot. »Man kann es essen, wenn man hungrig genug ist …«
    »Man kann Zigaretten damit drehen«, unterbricht Dun und sieht mich dann erwartungsvoll an.
    »Für Bücher«, sage ich zaghaft. »Man kann Bibeln daraus machen. Oder Geld drucken.« Ich bin mir immer noch nicht sicher, worauf er hinauswill.
    »Aber was ist das Allerwichtigste?«, fragt er. »Warum soll man überhaupt Achtung vor beschriftetem Papier haben? Weil die Wörter als solche schon Ehrfurcht enthalten. Was meine Mutter mich gelehrt hat, brachte mich dazu, Bücher zu lesen, Professor werden und anderen beibringen zu wollen, das geschriebene Wort zu lieben. Für sie waren Wörter etwas Magisches …«
    »Wie Gebete, die aufgeschrieben und dann verbrannt wurden«, sage ich. »Meine Mutter hielt das für die wirksamste Weise, mit ihren Göttern zu kommunizieren. In der Mission hat man uns natürlich beigebracht, dass diese Denkweise nur eine andere Form von Götzenverehrung ist.«
    »Es hat deine Mutter sehr traurig gemacht, dass du zu diesen Leuten gegangen bist«, erinnert mich Koch.
    Das ist wahr. Dass ich zur Methodistenmission ging, ärgerte meine Eltern, aber ich tat es trotzdem. Ich lernte Englisch und gutes Benehmen, aber vor allem lernte ich zu glauben. Das bereue ich keine Minute.
    Dun ballt die Hand zu einer lockeren Faust und tippt sich damit an die Lippen. Er denkt nach. Dann sagt er: »Aber meint ihr nicht, dass wir immer noch an die Wirkungskraft von geschriebenen Zeichen glauben? Wir schreiben immer noch Frieden, Wohlstand und Glück auf rotes Papier, um es an Neujahr an die Türen zu hängen. Pearl, du hast gesagt, du hoffst, Joy wird deine Liebe

Weitere Kostenlose Bücher