Tochter des Glücks - Roman
Straßenrand ausgegeben werden, schnappe ich mir meine Schultertasche und mache mich auf zur Führungshalle. Wie anders doch alles aussieht als damals, als ich zwei Sommer zuvor hier ankam. Der Mais sollte mir bis zu den Schultern reichen, und die Körner sollten die Luft mit einem warmen und wohlriechenden Duft erfüllen, doch ich sehe nur kleine, ungleichmäßig wachsende Stummel, als hätten die Felder an manchen Stellen eine schlimme Räude. Die Gründe dafür liegen auf der Hand und greifen ineinander.
Erstens: Obwohl Wissenschaftler erklärt haben, dass Spatzen mehr Insekten als Saatkörner fressen, hat der Vorsitzende Mao darauf bestanden, dass wir die Vögel weiterhin töten. Die Einzigen, die hier nun dick und fett werden, sind die Schwärme von Heuschrecken und anderen Insekten, die sich genüsslich an dem Gratisbuffet gütlich tun, zu dem unsere Felder geworden sind. Zum Zweiten die Dichtpflanzung. Wenn einer der Bauern, die in dieser Gegend aufgewachsen sind, Brigadeführer Lai nach dem Sinn dieser Maßnahme fragt, antwortet er: »Vertrau in die Volkskommune.« Drittens erwidert er auf die Frage, was er der Regierung in diesem Jahr versprochen hat: »Wir werden zehnmal so viel Getreide liefern wie sonst!« Und das macht uns Angst. Wie sollen wir denn so viel Getreide liefern, wenn unser Ertrag gesunken statt gestiegen ist? Wenn wir unsere Ernte abgeben, um dem «Wind der Übertreibung« des Brigadeführers gerecht zu werden, wird dieser Winter noch viel schlimmer als der letzte. Um uns zu schützen, haben wir bei der Frühernte so viel wie möglich in und auf dem Boden gelassen, für den Fall, dass wir nächsten Winter auf die Nachlese angewiesen sind.
Ich habe das Zentrum der Kommune erreicht und atme tief durch, um meine Nerven zu beruhigen und Mut zu sammeln. Dann marschiere ich entschlossen zur Führungshalle in dem Betonsteingebäude. Vor der Tür steht ein Wachmann.
»Kann ich zu Brigadeführer Lai?«, frage ich.
»Warum?«, antwortet der Wachposten, ein junger Bauer aus dem Mondteichdorf, mit einer Gegenfrage.
»Ich würde dem Brigadeführer sowie Parteisekretär Feng Jin und seiner ehrenwerten Frau gerne etwas vorstellen.«
Ich habe die Frage des Wachmanns nicht beantwortet, sondern nur meine Bitte erweitert. Er spannt die Wangenmuskeln an. Gibt man einem einfachen Mann eine Unze Macht, wirft er dir zehntausend Pfund Ziegelsteine an den Kopf. Er brüllt mich an. Als er sich etwas beruhigt hat, wiederhole ich meine Bitte. Er wird noch wütender. Brigadeführer Lai kommt an die Tür. In seinem Hemd steckt eine Stoffserviette.
»Was ist das für ein Lärm? Wisst ihr nicht, dass ich gerade esse?«
»Brigadeführer, ich möchte einen Sputnik starten«, verkünde ich.
»Du?«
Ich nicke kurz und zuversichtlich.
»Nein«, sagt er.
»Bitte hör mich an.« Ich gebe nicht nach. »Meine Idee wird wichtige Kader in die Volkskommune Löwenzahn Nummer acht bringen.«
Das ist eine kühne Behauptung, aber ich hoffe, dadurch eine positive Antwort vom Brigadeführer zu bekommen. Im Neuen China soll niemand nach persönlichem Ruhm streben, aber alle Kader wünschen sich individuelle Anerkennung. Er betrachtet mich von oben bis unten und überlegt: Sie ist eine rückwärts gewandte Imperialistin, aber auch die Tochter eines berühmten Malers, sie tritt geschäftsmäßig auf, sie hat eine Tasche über der Schulter, die … was enthält?
»Lass mich zu Ende essen.« Er hat eine Entscheidung getroffen. Er trägt dem Wachmann auf, Parteisekretär Feng Jin und Sung-ling zu holen. »Sie sollen in fünfzehn Minuten hier sein.« An mich gewandt, fügt er hinzu: »Warte hier.« Dann schließt der Brigadeführer die Tür und widmet sich wieder seiner Mahlzeit.
Fünfzehn Minuten später führt der Wachmann uns drei in das private Speisezimmer im Gebäude. Der Geruch von Essen – Fleisch – ist zwar verführerisch, ruft jedoch gleichzeitig schmerzliche Gefühle hervor. Ich werfe Sung-ling einen Blick zu. Wie Kumei vorgeschlagen hatte, sind Sung-ling und ich Freundinnen geworden. Wenn Sung-ling sagt, ihr Baby strampelt gerne, antworte ich ihr, dass meines noch viel mehr strampelt. Wenn ich sage, dass ich einen Sohn bekommen werde, entgegnet sie, dass sie Zwillingssöhne bekommt. Ich habe mich sehr bemüht, dieses freundliche Geplänkel aufzubauen, denn ich brauche Sung-ling, um mir zu helfen. Doch wenn ich sie jetzt so ansehe, frage ich mich, ob sie das kann. Sie war pummelig, als wir uns kennenlernten. Jetzt ist
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