Tochter des Glücks - Roman
nichts zu erzählen. Ich dachte nicht, dass ich eine Chance hätte. Manche Leute warten eine Ewigkeit. Andere bekommen sehr schnell einen Tagespass nach Hongkong. Ich dachte, ich gehörte zu der Kategorie, die eine Ewigkeit warten muss. Nun sagen sie, ich bekomme vielleicht eine Ausreisegenehmigung, weil sie sicher sind, dass ich zurückkomme. Sie glauben, ich kann ohne Dienstboten nicht leben!« Sie kichert hämisch. »Die kennen mich nicht sehr gut.«
Ich glaube, die kennen sie besser, als sie sich selbst kennt. Tante Hu hat noch nie ohne Personal gelebt. Sie hat gebundene Füße und ist in vielerlei Hinsicht genauso isoliert wie Yong im Gründrachendorf. Sie hat keine Ahnung, wie man putzt, wie man sich selbst die Kleider zurechtlegt (geschweige denn wäscht, bügelt oder sich alleine anzieht), wie man kocht (geschweige denn einkauft, irgendetwas außer Wasser aufsetzt oder Töpfe und Pfannen schrubbt) oder wie man arbeitet, um über die Runden zu kommen.
»In Wahrheit gibt es nur einen Grund, weshalb sie mich gehen lassen«, fährt sie fort, »nämlich, dass sie schon alles aus mir herausgesaugt haben, bis auf dieses Haus. Sollte ich je gehen, werden sie es sich nehmen.« Tante Hu berührt Dun am Arm. »Wir sehen uns nächsten Sonntag wieder, ja?« (Und das nach all ihrem Gerede vom Weggehen.)
Er legt die Handflächen zusammen und verbeugt sich. Das ist altmodisch und heutzutage völlig unangemessen, aber es macht Tante Hu glücklich. Trotz der vielen Veränderungen dürfen wir unsere Menschlichkeit nicht verlieren, und es gefällt mir, dass Dun so liebenswürdig ist. Auf dem Heimweg bin ich jedoch niedergeschlagen. Ohne Tante Hu würde sich die Stadt leer anfühlen, doch ich rede mir wieder ein, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Ganz egal, was sie sagt, eine Ausreisegenehmigung wird sie niemals bekommen.
Die anderen Mieter sind immer noch nicht zurückgekehrt, daher öffnet Dun eine Flasche Pflaumenwein, und wir gehen mit unseren Gläsern hinaus, um auf das Feuerwerk zu warten. Er setzt sich auf die Stufen, während ich mir im Garten zu schaffen mache. Ich schneide die letzten Rosen der Saison ab, bringe sie zu den Stufen und setze mich neben Dun. In der Ferne hören wir das Feiern. Als Dun seine Hand auf meine legt, bin ich weder überrascht noch verängstigt. Ich lächle, und das Herz klopft mir in der Brust.
»Pearl Chin«, sagt er und spricht mich mit meinem Mädchennamen an, »ich kenne dich seit langer Zeit. Als ich in euer Haus gezogen bin, hast du mich wahrscheinlich nicht wahrgenommen, aber du bist mir sofort aufgefallen. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dir sage, dass ich dich schon damals aus der Ferne geliebt habe. Ich wusste, es gibt keine Hoffnung für mich, aber vielleicht komme ich jetzt für dich infrage.«
»Ich bin Witwe«, erinnere ich ihn.
Ansonsten muss ich nichts erklären. Er ist ein chinesischer Mann und hat ein gewisses Alter. Er kennt die ganzen alten Einschränkungen, die für Witwen gelten. Doch als die erste Salve Feuerwerkskörper über uns explodiert, drückt er meine Hand.
»Ich glaube nicht an arrangierte Ehen«, sagt er, »aber ich glaube auch nicht an die Art von Ehen, wie wir sie im Neuen China haben. Du weißt, wo ich herkomme. Du weißt, ich habe viele englische Bücher gelesen. Ich möchte um dich werben – auf westliche Art.«
Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, und um mich hat noch nie ein Mann geworben.
J OY
Ein Jahr im Überfluss
A lle befürchteten, dass dieser Winter schlimmer würde als der im letzten Jahr, aber uns war nicht klar, in welchem Ausmaß. Es ist erst November – die schlimmste Zeit zwischen dem Gelb und dem Grün ist noch gar nicht da –, und Fu-shee und ich sind bereits zur Nachlese auf den Feldern. Die Dichtpflanzung hat nicht funktioniert. Die meisten Sämlinge sind eingegangen. Was überlebte, hat nur schwache und kleine Früchte getragen. Dann starteten wir Sputniks, brachten in Windeseile an einem einzigen Tag die gesamte Ernte an Rüben, Mais und Kohl ein. Bei der Arbeit bekamen wir kaum Wasser und nichts zu essen, bis wir ganz benommen und orientierungslos waren. Die Frauen, die ihre Periode hatten, durften sich nicht versorgen, ihre Hosen waren blutdurchtränkt. Und trotzdem war es kaum zu schaffen, die ganze Ernte in nur vierundzwanzig Stunden einzubringen. Das ging bloß, weil wir den oberen Teil der Rübenpflanzen abschnitten und die Knolle in der Erde stecken ließen, an Maiskolben vorbeiliefen oder
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