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Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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doch Samantha schreit umso erbärmlicher. Die Stimme der Funktionärin klingt schneidend und barsch, als sie mich anspricht, nur ihre Augen drücken etwas anderes aus. Freundlichkeit.
    »Wir sind uns alle einig, dass du zu weich bist«, sagt sie. »Du klagst zu viel. Aber der Vorsitzende Mao sagt, man soll keine Mühsal fürchten. Man soll den Tod nicht fürchten.«
    Ich fürchte keine Mühsal, den Tod jedoch fürchte ich schon. Wer öffentlich kritisiert wird, dem bleiben nur wenige Möglichkeiten: seinen Prinzipien treu bleiben und weitere Strafen riskieren, seine Schuld eingestehen und die Strafe akzeptieren, seine Schuld eingestehen, sich bei allen anderen Genossen für die Hilfe bedanken und auf Nachsicht hoffen. Plötzlich habe ich ganz deutlich meinen Vater Sam vor Augen. Es ist fast, als würde er neben mir stehen, mir die Hand auf die Schulter legen und mich nicht nur daran erinnern, was eine Mutter oder ein Vater tun sollte, sondern auch, wie er es anders hätte machen können. Ich drehe mich um und blicke meinen Anklägern ins Gesicht.
    »Ich bin dankbar für eure Kritik, denn ich weiß, ihr hättet sie nicht geäußert, wenn sie nicht wahr wäre«, sage ich. »Ich nehme sie mir zu Herzen und werde mich bessern. Ich danke meinen Genossen.«
    »Gut!«, sagt Sung-ling. »Das Gericht wird sich ein paar Minuten zurückziehen, um den Fall zu diskutieren. Bleibt alle sitzen. Wir sind gleich zurück.«
    Brigadeführer Lai, Parteisekretär Feng und Sung-ling gehen durch den Mittelgang und zur Tür hinaus. Ich setze mich auf die Bank, den Blick starr nach vorn gerichtet, und bin mir der Unruhe hinter mir bewusst. Ich knöpfe meine Bluse auf, und Samanthas Mund schließt sich um meine Brustwarze. Meine Schultern entspannen sich. Alle um mich herum beruhigen sich, als es plötzlich still ist. Tao kommt und setzt sich neben mich. Er sieht mich nicht an und schaut auch nicht nach, wie es Samantha geht. Warum ist er so schwierig? Warum lässt er mich nicht einfach gehen? Er liebt mich nicht. Er mag mich nicht einmal. Habe ich ihn irgendwie verletzt? Will er etwas von mir? Das Einzige, was mir einfällt, ist genau das, was Z. G. gesagt hat. Tao möchte, dass ich ihm helfe, von hier wegzukommen. Wie oft hat er mich gebeten, Z. G. wegen einer Reisegenehmigung zu schreiben? Unzählige Male. Und doch war genau das eine von Taos größten Klagen über mich.
    Das Gericht kehrt zurück.
    »Ihr hattet geringfügige Meinungsverschiedenheiten«, sagt Brigadeführer Lai. »Genossin Joy, du wirst nicht die weiße Schleife zum Zeichen der Denunziation tragen müssen, aber du musst dein kapitalistisches Gedankengut loslassen und dafür sorgen, dass dein Ehemann seine Vorrechte bekommt. Genosse Tao, denk daran, dass Kinder – ob Söhne oder Töchter – nicht dir gehören. Deine Tochter gehört dem Vorsitzenden Mao.« Er hält inne, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, dann verkündet er: »Die Scheidung wird nicht gewährt.«
    Das Unterhaltungsprogramm ist beendet, die Leute stehen auf und gehen. Mein Blick fällt auf Kumei, die sich beschämt abwendet. Meine Schwiegermutter, Jie Jie und die anderen Kinder scharen sich zusammen und warten. Tao schnippt mit dem Finger und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich kann sonst nirgendwohin und habe derzeit keine anderen Möglichkeiten, aber sobald ich zu Hause bin, hole ich Stift und Papier heraus. Ich schreibe einen Brief an Z. G., in dem ich ihn um Reisegenehmigungen anflehe. Tao beobachtet mich die ganze Zeit.
    Am nächsten Tag komme ich von der Arbeit nach Hause, stille die Kleine und lasse sie bei Jie Jie. Dann bringe ich meinen Brief zum Teich und warte auf den Postboten. Nach dem westlichen Kalender ist es Anfang Januar. Wieder habe ich Weihnachten und Silvester verpasst. Es ist kalt und trostlos. Als der Postbote nicht kommt, laufe ich auf den Hügel, der aus dem Dorf hinausführt. Von hier aus kann ich weit über die öden Felder blicken. In der Ferne sehe ich einen Mann, der mit dem Fahrrad auf mich zukommt. Es ist nicht der übliche Postbote, das heißt wohl, er ist tot. Ist der neue zuverlässig? Ich kann ihm nur vertrauen und hoffen, aber ich bin mir zunehmend sicher, dass mein Brief nie ankommen wird. Brigadeführer Lai wird meine Bitte um Reisegenehmigungen lesen, und damit ist die Sache erledigt. Was hier geschieht, darf nicht nach außen dringen. Die einzige Möglichkeit, mich von Tao zu befreien, besteht darin, ihm zu helfen, das Dorf zu verlassen, und die einzige

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