Tochter des Glücks - Roman
ich sie nicht erkennen. Sie sieht eher aus wie ein Geist als ein Mensch. Lange stehen wir schweigend da und versuchen zu begreifen, was das bedeutet. Dun spricht als Erster.
»Wir müssen sie holen. Wir müssen sie jetzt sofort holen.«
»Er hat recht«, sagt Z. G. »Wir müssen dorthin. Wir müssen sie holen.«
»Aber wie?«, frage ich.
»Wir könnten Reisegenehmigungen beantragen, aber …« Dun zögert, will das Offensichtliche nicht aussprechen. Selbst wenn wir Reisegenehmigungen beantragen würden, gäbe es keine Garantie, dass wir sie auch bekämen. Und wenn wir sie bekämen, wäre es wahrscheinlich zu spät.
»Wir könnten laufen«, schlage ich vor.
»Es ist zu weit«, sagt Z. G. »Fast vierhundert Kilometer.«
Das lasse ich nicht gelten. »Meine Mutter, meine Schwester und ich haben Shanghai auch zu Fuß verlassen.« Ich höre die Panik in meiner Stimme. Aber selbst wenn wir die vierhundert Kilometer laufen könnten, würden wir niemals rechtzeitig ankommen. Ich betrachte die Bilder, und Verzweiflung überkommt mich. Da fällt es mir schlagartig ein. »Sie hat auch einen Hinweis darauf geschickt, wie wir sie offiziell holen können.«
Die anderen sehen mich fragend an.
Ich zeige auf die Fotos vom Wandbild. »Joy hat geschrieben, es sei ein ›Vorbildprojekt von einer Vorbildkommune‹.«
Z. G. knetet sein Kinn und nickt bedächtig und nachdenklich. »Wir bekommen die Erlaubnis«, sagt er schließlich. »Wir gehen zur Künstlervereinigung, sobald sie aufmacht. Wir überzeugen die Zuständigen davon, uns hinzuschicken.«
Das halte ich für unwahrscheinlich, aber ich muss Z. G. vertrauen, sonst werde ich noch verrückt. Er nimmt die Aufnahmen von der Schnur ab und reicht sie mir.
»Geh nach Hause. Hol dir etwas zum Anziehen und …«
»… zu essen«, beende ich den Satz für ihn.
»Wir haben noch etwas Reis«, sagt Dun.
»Und ich besorge noch mehr«, füge ich hinzu. Dun runzelt die Stirn. Er weiß von den Sondergutscheinen, die ich von der Kommission für Belange von Überseechinesen bekomme, aber ich habe ihm nicht erzählt, wie viel amerikanisches Geld ich habe oder dass ich damit Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt kaufe. »May hat auch Lebensmittel geschickt. Die bringe ich mit, und was ich aufgespart habe – braunen Zucker und …«
»Du bist eine Mutter«, unterbricht mich Z. G. »Du weißt, was Joy und das Baby brauchen werden.« Stirnrunzelnd sieht er auf die Uhr. »Jetzt ist es eins.«
Das bedeutet, es fahren keine Busse mehr. Wir stehen bereits vor dem ersten Hindernis.
»Wir gehen jetzt zurück zu dir nach Hause«, sage ich. »Um fünf, wenn die ersten Busse fahren, brechen wir auf, packen unsere Sachen, und um acht sind wir wieder bei dir.«
Wir danken dem Fotografen und gehen auf demselben Weg zurück zu Z. G. Wir sollten schlafen, aber das können wir nicht. Als Dun und ich ein paar Stunden später in mein Wohnviertel fahren, herrscht schon frühmorgendlicher Betrieb. Wir kaufen zu essen, was wir bekommen können. Wenn wir näher am Gründrachendorf sind, wollen wir noch Ingwer und Sojamilch besorgen.
Die anderen Mieter sind natürlich misstrauisch.
»Warum nimmst du Reis aus dem Behälter?«, fragt die Witwe. »Das darfst du nicht.«
»Lauft ihr zusammen weg?«, fragt Koch. »So etwas wird im Neuen China nicht geduldet …«
»Ihr werdet uns alle in Schwierigkeiten bringen«, klagt eine der Tänzerinnen.
Ich kann und will ihnen nicht zuhören.
Um acht sind wir wieder bei Z. G. Wir lassen unsere Sachen im Eingang stehen und gehen zu dritt zur Künstlervereinigung. Als sie öffnet, bittet Z. G. darum, den Direktor sprechen zu dürfen, und wir werden in sein Büro geführt. Als ich zum ersten Mal hier war, um Joy und Z. G. zu suchen, war der Mann pummelig; nun ist er ausgemergelt und grau. Z. G. legt ihm die Aufnahmen vom Wandbild – ohne die Fotos von der Eule, dem Christus und Joy und dem Baby – auf den Schreibtisch. Ich lese Joys Brief vor, in dem sie die Kommune lobt, insbesondere die Rolle ihres Ehemanns, der diesen besonderen Sputnik gestartet hat.
Als ich fertig vorgelesen habe, sagt Z. G.: »Du solltest Feng Tao und seine Frau nach Shanghai holen.«
»Aus welchem Grund sollte ich das tun?«, fragt der Direktor skeptisch.
»Weil der Junge zu den Lieblingen des Vorsitzenden Mao gehört«, antwortet Z. G. »Vor zwei Jahren wurde seine Arbeit beim Neujahrsplakatwettbewerb eingereicht.«
»Der Wettbewerb, den du gewonnen hast«, bemerkt der Direktor.
»Ja, aber
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