Tochter des Glücks - Roman
sitzen. Ich schaue immer wieder in den Rückspiegel. Z. G.s Augen sind vor Entsetzen geweitet. Wir haben beide fürchterliche Angst um Joy.
Nach einer Kurve trete ich mit voller Kraft auf die Bremse. Mitten auf der Straße liegen ein Mann und eine Frau. Ich kann nicht um sie herumfahren. Wir sitzen im Auto, der Motor läuft leer.
»Was machen wir jetzt?« Ich halte das Lenkrad fest umklammert.
»Geben wir ihnen etwas zu essen. Vielleicht können wir sie so von der Straße wegbewegen.«
Ich möchte nicht aus dem Auto aussteigen, aber ich überwinde mich. Z. G. und ich holen ein paar Kräcker aus dem Kofferraum. Zögerlich gehen wir damit auf die beiden zu, die Arme ausgestreckt. Der Mann hebt die Hand, um nach Z. G.s Kräcker zu greifen, und bricht tot zusammen. Die Frau nimmt den Kräcker entgegen, drückt ihn an die Brust und rollt sich zu einer kleinen Kugel ein, um ihn zu schützen.
»Du solltest versuchen, ihn zu essen«, sage ich sanft. Die Frau starrt ihren toten Gefährten an, mit leerem Blick schützt sie ihren Schatz. Fast kommt es mir vor, als hätte ich ihr das wertvollste aller Weihnachtsgeschenke gegeben, etwas, das aufbewahrt und in Ehren gehalten werden muss – damit es nie kaputtgeht, geschweige denn gegessen wird.
Z. G. beweist Mut, den ich ihm nie zugetraut hätte, packt den Toten an den Fersen und schleift ihn an den Straßenrand. Dann helfe ich ihm, die Frau zu tragen. Als wir fertig sind, sagt er schroff: »Komm schon. Wir müssen weiter.«
Wir müssen noch mehrere Male anhalten, um Tote oder Sterbende aus dem Weg zu räumen. Die Sonne steht strahlend am Himmel. Jedes Mal, wenn ich aus dem Auto steige, rechne ich mit vollkommener Stille – kein Gesang, keine Geräusche von Feldarbeit, keine Tierlaute, kein Vogelgezwitscher –, aber die Zikaden, denen die Sorgen der Menschheit einerlei sind, zirpen unablässig. Dann hören wir beim Anhalten über dem Zirpen der Zikaden plötzlich das Wimmern, Heulen und Weinen von Kindern und Babys – es bohrt sich mir direkt ins Herz. Z. G. und ich suchen die Felder nach dem Ursprung dieser Laute ab, die aus allen Richtungen zu kommen scheinen.
Vor uns, nicht weit vom Straßenrand, bewegt sich etwas – ein wütendes Hüpfen von Kopf und Schultern eines kleinen Mädchens. Die Eltern haben ein Loch gegraben, so tief, dass das Mädchen nicht mehr herauskann, und ihre Tochter dort zurückgelassen. Sie mussten gehofft haben, dass jemand haltmacht und sie mit nach Hause nimmt. Ich mache ein paar Schritte auf das Loch zu, damit ich hineinschauen kann. Das Mädchen ist nackt. Ihre Haut hängt herunter wie runzlige Tofuhaut, der Bauch ist aufgetrieben und lila. Da packt mich Z. G. an den Schultern.
»Schau.« Er zeigt auf andere Stellen auf dem Feld.
Auch dort wurden Kinder und Babys in Löchern zurückgelassen. Sie sind überall. Ich glaube, mir wird schlecht.
»Das ist furchtbar, aber wir müssen weiter«, sagt Z. G.
»Aber …« Ich deute auf das Feld.
»Wir können ihnen nicht helfen. Wir müssen Joy und ihr Baby holen.«
Ich bin völlig verzweifelt. Wenn ich auch nur eines dieser Kinder rette, ist es vielleicht zu spät für mein eigenes Fleisch und Blut. Ich verschließe die Ohren und mein Herz, steige wieder ins Auto ein und fahre weiter.
Schließlich kommen wir bei der alten Ausstiegsstelle zum Gründrachendorf an. Da der Direktor der Künstlervereinigung bereits Bescheid gesagt hat, rechne ich mit einer Empfangsabordnung, so wie beim letzten Mal. Stattdessen ist die Straße unheilverkündend leer und ruhig, während der Fußweg, den wir sonst ins Gründrachendorf genommen haben, mit Sägeböcken und anderem Unrat versperrt wurde. Ein Schild mit einem Pfeil zur Volkskommune Löwenzahn Nummer acht weist auf eine neue Straße, die durch die Felder und um die Hügel herumführt, die das Gründrachendorf umgeben. Die Kader der Kommune hätten das nicht gemacht, wenn sie nicht wollten, dass wir Joy und das Baby dort sehen – an dem Ort, wo sich das Wandbild befindet.
Ich nehme die Straße ins Zentrum der Kommune. Hier sind der Glücksgarten für die Alten, der Kinderhort und die Klinik. Die aus Maisstauden bestehenden Wände der Kantine sind jedoch auseinandergebrochen, und das Dach ist eingefallen. Und da steht die Führungshalle, genau wie auf den Fotos, die Joy geschickt hat, mit dem kritischen, jedoch erstaunlich bunten Wandbild. Neben der Halle springen kleine Kinder herum und spielen auf Haufen von offensichtlich frischem Heu. Sie klatschen
Weitere Kostenlose Bücher