Tochter des Glücks - Roman
in die Hände und rufen: »Willkommen! Willkommen!« Sie führen ein Theater auf, als würde ihr Leben davon abhängen, und vielleicht tut es das auch, denn ihre Bäuche sind vom Hunger aufgetrieben, und den Ausdruck in ihren Augen sollte niemand zu sehen bekommen. Eine Gruppe Erwachsener, sauber, aber abartig dünn, hält Schilder mit huldvollen Begrüßungsworten in der Hand und singt Lieder zum Lob des Großen Sprungs nach vorn, doch auch ihre Begeisterung – oder ihre Energie – ist nicht ehrlich.
Brigadeführer Lai tritt vor. Er sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal. Er begrüßt uns und bedeutet uns, das Gebäude zu betreten. Ich gehe rasch hinein, denn ich erwarte, Joy dort zu sehen. Immerhin hat sie den Brief geschrieben. Der Brigadeführer musste davon wissen, sonst wäre der Brief nicht angekommen. Wenn ich es mir jetzt überlege, war er wahrscheinlich sogar derjenige, der die Aufnahmen von ihr und dem Baby gemacht hat. Ein runder Tisch ist für ein Festessen gedeckt.
»Wir haben für unsere ehrenwerte Gäste ein Festmahl mit zwanzig Gängen vorbereitet«, verkündet Brigadeführer Lai.
Der Tisch ist für drei gedeckt.
»Wo ist meine Tochter?«, frage ich.
»Sie ist mit dem Künstler zu Hause. Es besteht kein Grund, sie zu besuchen. Greift zu! Greift zu!« Er klatscht erwartungsvoll in die Hände. »Nach dem Essen kann Li Zhi-ge seine Auszeichnung überreichen.« Er verneigt sich unterwürfig. »Ich hoffe, ich bin nicht voreilig und habe zu viel erwartet …«
Ich laufe nach draußen. Die Männer, Frauen und Kinder, die noch vor wenigen Augenblicken herumsprangen, winkten und sangen, sitzen in der Hocke und schieben sich kleine Reisbällchen – wahrscheinlich eine Belohnung für ihre Aufführung – in den Mund, während ein Wachmann zusieht. Zu Fuß bin ich in etwa zehn Minuten im Gründrachendorf. Wenn ich zurück zur Kreuzung fahre und von dort aus laufe, sind es mehrere Meilen.
Z. G. nimmt mich am Arm. »Gehen wir.«
Wir eilen den Pfad entlang, der neben dem Bach verläuft. Nach wenigen Minuten überqueren wir die kleine Steinbrücke und betreten das Gründrachendorf. Überall liegen Tote. Auf der Straße war der Geruch nicht so schlimm, aber hier stinkt es widerlich nach Tod und Verwesung. Ich schaue den Hügel hoch zum Haus von Taos Familie. Ich sehe keine Lebenszeichen, aber im ganzen Dorf herrscht Totenstille.
Z. G. rennt den Hügel hinauf. Ich folge ihm nach. Die Haustür steht offen. Die Küche vor dem Haus sieht aus, als wäre sie längere Zeit nicht benutzt worden. Drei rostige Schubkarren lehnen an der Wand. Dieselbe kaputte Leiter liegt immer noch abgeknickt herum. Niemand hat sie repariert, seit ich zum ersten Mal hier war.
Z. G. starrt mich an. Seine Tochter, meine Tochter – sie ist drinnen. Ich hole Luft, um mein Herz zu beruhigen und mich auf das Schlimmste gefasst zu machen, was sich eine Mutter nur vorstellen kann.
Wir betreten das Haus. Der Raum ist dunkel, kalt und feucht. Papierfetzen hängen an den Fenstern. Auf dem Boden liegen Schlafmatten, aber niemand liegt darauf. In einer Ecke nehme ich eine leichte Bewegung wahr. Tao. Er sieht schlimm aus.
»Wo ist Joy?«, frage ich.
Ich folge der Richtung seines Blicks und sehe einen Haufen wattierter Kleidungsstücke in einer anderen Ecke. Ich renne durch das Zimmer und knie mich neben den Haufen. Ich ziehe sanft daran, und er kippt nach vorne. Joy. Ihre Haut sieht aus wie altes Pergament. Ihre Wangen sind eingefallen, und ihre Lippen haben eine bläuliche Färbung. Ich schnappe nach Luft, bin mir sicher, dass wir zu spät gekommen sind, aber bei dem Geräusch schlägt sie die Augen auf. Sie leuchten hell – starren mich fiebrig und leer an. Sie bewegt den Mund, aber es kommt kein Ton heraus. »Mama.«
Ich schlucke mein Entsetzen und meine Angst herunter. Es kann nicht zu spät sein.
»Setz Wasser auf, Z. G. Beeil dich.«
Als er wieder hinausgeht, ziehe ich Joys Kleider noch mehr zurück, und da, an ihrer nackten, aber geschrumpften Brust ist meine Enkeltochter. Auch sie ist am Leben. Ich öffne meine Tasche, hole das Päckchen braunen Zucker heraus und lasse ein paar Kristalle in Joys Mund fallen. Das Gleiche mache ich bei dem Baby.
Z. G. kehrt mit einem Topf heißem Wasser zurück. Ich brühe einen leichten Tee aus braunem Zucker und ein paar Scheibchen frischem Ingwer auf. Während Z. G. ihn umrührt, suche ich ein Messer. Ich schneide mir in den Arm und lasse das Blut in einen Becher tropfen. Jahrtausendelang
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