Tochter des Glücks - Roman
machen.
Ich stehe am Herd und mache »Bitterkuchen« aus dem Gras, das ich gestern bei der Lunghua-Pagode gepflückt habe. Später, wenn alle bei der Arbeit sind, werde ich die Ulmenblätter in Wasser einweichen, damit sie nicht mehr so sauer schmecken und ich heute Abend Blätterpfannkuchen daraus machen kann. Ich kann aus fast nichts noch ein Essen zubereiten, und dafür wird meine Anwesenheit von allen nicht nur geduldet, sondern sogar geschätzt.
»Erst sagen sie uns, wir sollen Spatzen töten, und jetzt gibt es eine Kampagne gegen Wanzen«, beschwert sich eine der Tänzerinnen. »Wir haben keine Wanzen, aber wie sollen wir dann beweisen, dass wir unseren Teil beitragen?«
»Wir schieben den Mangel an Wanzen auf den Großen Bruder«, scherzt der Schuster schlau. »Wir sagen einfach, sie haben die Wanzen mit nach Hause genommen.«
Im Juli haben die sowjetischen Fachkräfte China verlassen und ihre Maschinen, ihre Ausrüstung und das technologische Fachwissen mitgenommen. Seither hat die Regierung dem Großen Bruder die Schuld für alles zugeschoben.
»Ja, ja, ja! Das habe ich schon gehört«, fällt die Witwe ein. »Wir behaupten, das sei der Grund dafür, dass wir keine Wanzen haben.«
»Jetzt haben wir zwei Feinde«, fährt der Schuster fort und streckt die Arme aus, damit er nun das Baby halten kann. »Wir müssen sowohl gegen den sowjetischen Revisionismus kämpfen als auch gleichzeitig gegen den amerikanischen Imperialismus.«
Diese Argumentation ist aus vielen Gründen unlogisch. Zum Beispiel hat man uns schon weisgemacht, dass die Sowjets Wanzen mitgebracht und das Ungeziefer dagelassen haben, um uns zu quälen. Aber derzeit ergibt kaum noch etwas Sinn. Der Radiosprecher erzählt uns vieles: dass die UdSSR sich bei den Vereinten Nationen vielleicht mit den USA verbünden werden, um die VRC weiter auszugrenzen und zu schwächen. (Ich wurde in den USA geboren und habe neunzehn Jahre dort gelebt. Meine Familie litt unter der Taktik der Roten Angst. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendetwas von dem, was man uns erzählt hat, wirklich geschehen könnte.) In der Zwischenzeit passieren noch andere Dinge. Auch Ausländer aus anderen Ländern als der UdSSR wurden nach Hause geschickt. Seit Jahrhunderten haben sich nicht mehr so wenige Ausländer in China aufgehalten. Keine Publikation – bis auf zwei Propagandazeitungen – darf mehr das Land verlassen. Mit anderen Worten, China hat sich vom Rest der Welt abgeschottet. Was an Informationen über die Grenzen dringt, glaubt niemand, wie May in ihrem Brief erklärte. Die Menschen, die innerhalb von China leben, auch diejenigen, die hier am Frühstückstisch sitzen, hinterfragen, was man uns erzählt. Sie wollen die Wahrheit herausfinden. Gerade dreht sich der Klatsch um Mao Zedong, der vor Kurzem seine Position als Staatspräsident der Volksrepublik China an Liu Shao-ch’i abgegeben hat.
»Es heißt, dass Mao vor einer Versammlung von siebentausend Parteifunktionären Selbstkritik geübt hat«, flüstert eine der Tänzerinnen verschwörerisch.
»Vielleicht hat er seinen Platz frei gemacht, damit ihm niemand die Schuld für den Großen Sprung nach vorn geben kann«, entgegnet der Schuster.
Samantha fängt an zu zappeln, und er reicht sie weiter an die Witwe. Als Mutter von zwei Töchtern weiß sie genau, wie man ein Baby beruhigt. Sie legt sich Samantha an die Schulter, wiegt sie und klopft ihr sanft auf den Rücken. Ich stelle einen Teller mit Bitterkuchen auf den Tisch, und die Mieter greifen rasch danach, während sie die ganze Zeit dabei schwatzen.
»Ist es nicht egal, ob Mao als Staatsoberhaupt zurückgetreten ist?«, fragt die Witwe. »Er hat immer noch das oberste Kommando. Nichts hat sich geändert.«
»Außer dass wir hungern.« Das kommt von Koch.
Den Mietern ist nach wie vor nicht ganz bewusst, wie glücklich sie sich eigentlich noch schätzen können.
»Wer hätte gedacht, dass die Ratten aus Shanghai verschwinden?« Die Tänzerin beugt sich vor, und alle rücken näher, um besser hören zu können, als sie schaudernd sagt: »Die Leute haben sie gegessen!« Dann wendet sie sich an die Witwe. »Jetzt bin ich dran. Gib mir das Baby.« Sie hält Samantha unter den Armen, damit sie das Stehen üben kann. Samantha ist immer noch schwach, aber überraschend hartnäckig und ausdauernd. Ihre kleinen Beinchen wackeln, aber sie rudert aufgeregt mit den Armen, ein breites Lächeln im Gesicht. Die Tänzerin hält Samantha im
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