Tochter des Glücks - Roman
»Denk daran, Joy, du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du bist erst zweiundzwanzig. Du wirst einen guten Mann finden. Oder er dich. Vielleicht kennt ihr euch ja schon. Ich bin mir sicher, dass Violets Sohn noch auf dich wartet …«
»Leon?« Ich kicherte. Meine Mutter und ihre Freundin Violet versuchten seit einer Ewigkeit, ein Paar aus uns zu machen.
»Wieso denn nicht?«, fragte sie ganz unschuldig. »Glück, auf mehr kommt es nicht an, Joy.« Sie hielt inne, um den Satz wirken zu lassen. »Und was eine Frau außerdem glücklich macht, ist Arbeit, die ihr Leben bereichert – ob du nun so wie May deine Nachbarn als Komparsen für Filme engagierst oder an der Seite deines Mannes arbeitest, wie ich es mit Sam im Café getan habe. Für dich wird das die Malerei sein, denke ich.«
Die Erinnerungen an Tao, das Wandbild und die Kommune hatten mir die Malerei vergällt. »Ich möchte nicht mehr malen«, antwortete ich, und das meinte ich ernst.
»Das sagst du jetzt, aber die Dinge ändern sich.«
Natürlich hatte meine Mutter auch damit recht.
Es dauerte fast einen Monat, bis die Antwort von May eintraf. Wir bekamen einen Brief und ein Päckchen, beides auf dem üblichen Weg von Großvater Louies Familie im Dorf Wah Hong. Der Brief war Mays förmliche Einladung an uns, die wir zur Polizei bringen mussten. In dem Päckchen waren etwas getrocknetes Brot und Puffreis – sehr willkommen – und ein Rüschenkleidchen für Samantha, mit rosa Smokarbeit, einem passenden Häubchen und einer Pluderhose, die über die Windel passt. Bevor ich eingreifen konnte, hatte meine Mutter das Häubchen zerrissen.
»May versteckt immer etwas für mich in Kopfbedeckungen«, erklärte sie.
Ich dachte mir nur: Diese beiden Schwestern! Aber flach unter dem Hutband für den Schirm des Häubchens steckte noch ein zusätzlicher Brief von Tante May:
Ich bin in Hongkong angekommen. Onkel Charley kümmert sich um das Café. Mariko sorgt dafür, dass mein Betrieb weiterläuft. Den Filmproduzenten habe ich gesagt, was ich vorhabe. Sie meinten, ich sei nicht mehr ganz bei Trost, aber alle Schauspieler haben zusammengelegt und mir 1000 Dollar geschenkt. Sucht in diesem und in anderen Paketen danach.
Ihr müsst euch beeilen, aber ihr müsst auch vorsichtig sein. Der Mann vom Familienverband hat mir gesagt, dass viele Menschen China verlassen. Die Behörden hier und in den Vereinigten Staaten glauben die Geschichten nicht, die die Flüchtlinge über die Hungersnot erzählen. Gleichzeitig fordert die VRC in Hongkong lebende Chinesen auf, Nahrungsmittel und Geld an ihre Verwandten auf dem Festland zu schicken. An den Postämtern bilden sich unglaublich lange Schlangen. Wer großzügig ist, wird mit einem Bankett belohnt. Begreifen sie denn nicht, wie paradox das ist?
Ich glaube, dass die chinesische Regierung nur selten begreift, wie paradox etwas ist.
Ich bin jetzt ganz nahe bei euch. Bitte sagt mir, was ich noch tun kann.
Weitere Briefe wurden gewechselt, und wir fanden all das versteckte Geld, aber die Einzelheiten unseres Plans legten wir wohlweislich nicht offen, um ihn nicht zu gefährden.
»Bleib einfach in unserem alten Zuhause«, antwortete meine Mutter ihr. Sie meinte das Hotel. »Eines Tages sind wir da.«
Und so stehe ich Monate später nun hier und lasse an einem stürmischen Nachmittag mit dieser improvisierten Familie Drachen steigen. In meinem tiefsten Inneren bin ich frei von Angst und Schuldgefühlen. Ist es möglich, in der Volksrepublik China glücklich zu sein? Auf jeden Fall, denn in diesem Moment bin ich es.
Unser Fluchtplan ist sehr einfach geraten und besteht nur aus zwei Teilen. Erstens: Reisegenehmigungen. Z. G., der in den letzten Jahren Anfang November immer die Chinesische Exportwarenmesse in Kanton besuchte, hat eine Genehmigung beantragt und erhalten. Er darf Tao mitbringen (einen Vorbildkünstler), um gemeinsam mit ihm vor Publikum zu malen – sie sollen die alten und neuen Kunststile in China demonstrieren. Sie werden von einem Baby, dessen Amah (meiner Mutter) und mir (der Frau des Künstlers) begleitet. Zweitens: Ausreisegenehmigungen und Pässe. Meine Mutter und Dun werden morgen heiraten. Danach gehen wir zur Polizei und zum Amt für auswärtige Angelegenheiten, um die Pässe für diejenigen von uns abzuholen, die sie benötigen, sowie Genehmigungen für die Reise nach Kanton für Dun und Ta-ming, und Ausreisegenehmigungen für meine Mutter, Dun, Ta-ming, Samantha und mich zu einem Familientreffen in
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