Tochter des Glücks - Roman
Inseln ragen aus dem Meer, Fischerboote schaukeln auf den Wellen, Palmen biegen sich im Wind. Dann fliegen wir mitten in die Stadt hinein, zwischen Wohnhäusern hindurch, so nahe, dass ich durch die Fenster Männer in Unterhemden beim Teetrinken sehen kann, Wäsche, die über Stuhllehnen hängt, Frauen beim Kochen. Nach der Landung rollen Männer mit nacktem Oberkörper eine Treppe ans Flugzeug. Ich suche meine Sachen zusammen und folge den anderen Passagieren zum Ausgang. Der Geruch von Kohlenrauch, gegrillter Ente und Ingwer, vermischt mit der schweren, feuchten Luft, erfüllt meine Lungen. Ich bin zwar erst in Hongkong, einer britischen Kolonie, aber für mich riecht das wie China.
Ein Beamter der Einwanderungsbehörde fragt mich nach meinem endgültigen Reiseziel. Als Drache möchte ich am liebsten sofort direkt nach China, möchte auf kürzestem Weg durch das Land, mit meinen langen Klauen Türen aufreißen, um meine Tochter zu finden, aber zuerst habe ich noch einiges zu erledigen. Und dafür muss ich in die Stadt.
»Hongkong«, antworte ich.
Der Flughafen liegt auf der Seite von Kowloon. Als es dunkel wird, schlängelt sich mein Taxi durch die verkehrsreichen Straßen in Richtung Star Ferry Terminal. Grelle Neonlichter umranden nach oben gebogene Traufen, verkünden auf Englisch und in chinesischen Schriftzeichen die Namen von Restaurants und preisen alles Mögliche an, von kostenlosen Drinks über Tänzerinnen für amerikanische Seeleute bis hin zu Kräutern und Elixieren, um kräftige, gesunde Söhne zu gebären. Erinnerungen überfluten mich. Vor zwanzig Jahren war die Stadt die Durchgangsstation bei Mays und meiner Flucht aus China und auf das Schiff nach Amerika. Ja, es ist eine britische Kolonie, dennoch bin ich verblüfft, wie chinesisch sie ist. Die Grenze zu China ist etwa zwanzig Meilen entfernt, und Kanton liegt ungefähr achtzig Meilen dahinter.
Ich gehe an Bord der Star Ferry und fahre damit über die Bucht auf die Seite von Hongkong, wo hohe, weiße Gebäude aus den grünen Hügeln wachsen. Ich schlage mich zu demselben billigen Hotel durch, in dem May und ich vor zwanzig Jahren gewohnt haben. Nach der Anmeldung gehe ich auf mein Zimmer und schließe die Tür. Es ist, als würde mich plötzlich all die Trauer, die ich als Witwe hätte empfinden sollen, mit einem Schlag überkommen, während die Angst, die ich um Joy empfinde, überwältigend ist. Mir ist in meinem Leben viel Schreckliches widerfahren, aber das Weglaufen meiner Tochter ist das Schlimmste. Ich habe Angst, dass ich nicht die starke Mutter sein kann, die ich sein muss. Vielleicht war ich nie eine starke Mutter. Vielleicht war ich nie gut genug, um Joys Mutter zu sein. Weil ich natürlich nicht Joys Mutter bin.
Mein Geist springt von einer Schreckensvision zur nächsten, bevor er sich eine noch schlimmere ausmalt. Die Scham, die ich empfinde, weil ich meinen Ehemann und meine Tochter enttäuscht habe, brennt mir auf der Haut. Ich habe niemanden. Nicht einmal meine Schwester. Ich werde ihr kaum je vergeben können, dass sie Sam an das FBI verraten hat. Sie hat sich bei mir entschuldigt, und als wir am Flughafen standen, sagte sie: »Wenn unsere Haare weiß geworden sind, bleibt uns immer noch unsere Schwesternliebe.« Ich hörte mir das an, aber ich glaubte ihr nicht. Ich schwieg, denn ob es mir gefiel oder nicht, wir mussten als Schwestern zusammenhalten, um Joy zu finden. Wenn ich es zulasse, über die Dinge nachzudenken, die mir May in jener Nacht vorgeworfen hat, muss ich zugeben, dass sie in vieler Hinsicht recht hatte. Sie wies mich darauf hin, dass ich in Shanghai auf dem College war, aber nie etwas daraus gemacht habe. Ich habe auch nie irgendwelche Gelegenheiten ergriffen, die sich mir in Los Angeles boten. May behauptete, ich gefiele mir in der Opferrolle und würde mich in meinem Verzicht suhlen. Sie warf mir vor, ich hätte Angst und liefe vor der Vergangenheit weg. Aber May sagte auch stets: Alles kehrt immer zum Anfang zurück. Sie würde lachen, wenn sie mich jetzt sehen würde, denn ich bin so angestrengt und so lange gelaufen, dass sich der Kreis geschlossen hat und ich nun mitten im Herz meiner Vergangenheit gelandet bin.
Man muss mich nur ansehen! Ich habe Angst, genau wie May gesagt hat. Ich war immer hoffnungslos und mitleiderregend ängstlich, aber meine Schwester hat nie aufgegeben. Als wir vor zwanzig Jahren aus Shanghai flohen, ließ sie mich nicht in der Hütte zurück, nachdem ich von japanischen
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