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Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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purzeln. Das Programm beginnt mit der Schilderung von ein paar der größten Triumphe Maos und der Roten Armee während des Befreiungskriegs. Dann führen die Schauspieler der Propagandamannschaft eine kurze Szene auf, um die Zwölf-Punkte-Maßnahmen zu demonstrieren, mit denen die landwirtschaftliche Produktion gesteigert werden soll. Der Inhalt ist mir nicht neu. Ich weiß, dass die Bewohner des Gründrachendorfs diese Maßnahmen bereits ergriffen haben, weil ich das beobachtet und auch selbst gemacht habe. Ich habe Wassereimer an einer Stange über den Schultern zu den Feldern getragen, mit der Hand Dünger verteilt und Kohlköpfe mit Odel besprenkelt. Jeden Tag kommen Tao und ich an einem Wasserbüffel vorbei, der immer wieder über Steine geführt wird, damit er sie zertritt und den Boden auflockert, sodass ein neues Feld angelegt werden kann. In den ersten Tagen nach meiner Ankunft machte ich mir Gedanken über das Tier. Es trug Scheuklappen und war so oft über die spitzen Steine gestolpert, dass es blutige, verschorfte Beine hatte. Mein westliches Mitleid überkam mich, und ich fragte Tao, warum niemand dem Wasserbüffel die Scheuklappen abnahm, damit er sehen konnte, wo er hintrat.
    »Ohne Scheuklappen würde er den Steinen ausweichen«, antwortete Tao. »Das ist seine Strafe für das, was er in einem früheren Leben angestellt hat.«
    Ich kann immer noch kaum glauben, dass Tao so rückständige Vorstellungen hat, andererseits dreht sich ja dieser ganze Abend um die Bildung der Bauern.
    Der landwirtschaftlichen Lektion folgt eine weitere Einlage der Akrobaten, was die Stimmung im Publikum deutlich hebt. Als der letzte Akrobat mit einem Salto die Bühne verlässt, nehmen Kumei, Sung-ling und ich einander an der Hand und treten vor. Ich werde heute Abend zwei unterschiedliche Rollen spielen. Da ich als Einzige von uns dreien schon einmal professionell aufgetreten bin, habe ich die größten Rollen. Für meinen ersten Part als Soldatin trage ich eine grüne Jacke, eine Hose und eine Mütze mit einem roten Stern. Kumei tritt zu meiner Linken als Mädchen vor der Befreiung auf. Sie trägt einen kunstvollen Kopfputz mit Quasten und Perlen, eine Brokatjacke und einen langen Seidenrock mit Dutzenden winzig kleiner Fältchen. Sung-ling rechts von mir hat das Alltagsgewand der Frauen hier auf dem Land an: eine Baumwollbluse mit Blumenmuster, weite blaue Hosen und selbst gemachte Schuhe.
    »Wir drei Frauen haben im Neuen China ein neues Leben gefunden«, sage ich zum Publikum gewandt. »Wir haben gegen die feudalen Ordnungen der politischen Autorität, der Autorität der Clans, der Autorität der Religion und der Autorität der Ehemänner gekämpft. Wir haben gegen die Unterdrückung der Klassen und gegen ausländische Aggression gekämpft.«
    »Ich bin ein Mädchen aus der Feudalzeit«, verkündet Kumei nervös. Als wir mit den ersten Proben anfingen, bestand Sung-ling darauf, dass Kumei diese Rolle spielte. Es fällt nicht leicht, sich Kumei – mit ihren roten Wangen und der lauten Stimme – als gesittetes Mädchen vorzustellen. Ich wäre in dieser Rolle viel besser gewesen, da ich als Komparsin in einem Film schon einmal die Tochter eines Kaisers gespielt habe. Außerdem hat meine Tante immer gesagt, man soll die Rolle mit dem besseren Kostüm nehmen.
    »Mit fünf Jahren wurde ich von meinen Eltern an den Grundherrn verkauft«, fährt Kumei fort. »Bald verkleidete er mich als Geschenk und öffnete mich jede Nacht. Ich weinte bitterlich. Ich hatte einen Mund, aber nicht das Recht, zu sprechen. Ich hatte Beine, aber nicht die Freiheit, wegzulaufen.«
    Kumei bewegt die Arme eher unbeholfen, und sie hat überhaupt keine Bühnenpräsenz. Dennoch bin ich überrascht von ihrer Leistung. Sie ist Analphabetin, daher konnte sie auch den Text nicht lesen. In der vergangenen Woche habe ich ihr geholfen, den Text zu lernen, aber Sung-ling hat immer wieder gesagt, Kumeis Version sei gut so.
    »Die Kuomintang-Soldaten taten nichts, um das Volk gegen die japanischen Soldaten oder die Elemente zu schützen. Vor fünfzehn Jahren trocknete eine Dürre die Felder aus. Vor elf Jahren überkam eine Hungersnot unser Land. Millionen von Menschen hungerten.«
    Kumei zögert und verhaspelt sich. Dann bleibt sie stocksteif stehen. Die Leute im Publikum kichern und zeigen mit dem Finger auf sie. Ich hatte gedacht, das würde Spaß machen, aber ich wünschte, sie hätte sich nie freiwillig gemeldet. Sung-ling zischt ihr die nächste Zeile

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