Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
jedes Tages soll ich eigentlich alles, was ich gesammelt habe, abgeben, aber ich behalte das Plakat und die anderen Stücke von meiner Schwester und mir in der Tasche, um sie bei den anderen, die ich bereits zu Hause habe, zu verstecken.
    Ich biege um eine Ecke und betrete ein kleines Sträßchen. Plötzlich schießen mir Bilder durch den Kopf: wir am Neujahrstag, wie wir Anstandsbesuche abstatten, meiner Mutter wird aus einer Rikscha geholfen, mein Vater tupft sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Ich kenne diese Straße. Hier hat die Familie Hu gewohnt. Madame Hu war Mamas beste Freundin. Mama und Madame Hu wollten immer eine Ehe zwischen May und Tommy arrangieren, dem geliebten Sohn der Hus. Aus heutiger Sicht ist klar, dass es nie dazu gekommen wäre, aber damals fand ich, Tommy und May wären ein nettes Paar. Ich erinnere mich auch noch an den Tag, an dem Bomben auf die Nanking Road fielen und Tommy starb. Im Rückblick erkenne ich viele Augenblicke, die mein Leben verändert haben. Der Tag, an dem Tommy starb, gehört auch dazu. Seltsam, dass wir das damals nicht als schlechtes Omen wahrgenommen haben, denn das war es: Am selben Abend kamen die Schläger der Grünen Bande des Pockennarbigen Huang, um meinen Vater zu bedrohen.
    Wieso ist es mir nicht früher eingefallen, hierherzukommen? Ich muss herausfinden, ob von den Hus noch jemand lebt. Die Häuser in der kleinen Straße sehen ganz anders aus als viele, die ich sonst gesehen habe. Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Wäsche an aus den Fenstern ragenden Stangen hängt, dass sie wie Decken aus schmutzigem Schnee über Büsche drapiert oder über Zäune und Mauern gehängt wird. Im Neuen China gibt es keine Geheimnisse. Jeder kennt jeden, einfach durch das Vorbeigehen an der Wäsche – man weiß, wie alt die Menschen sind, die in dem Haus leben, welches Geschlecht sie haben, ob sie arm sind oder ein wenig wohlhabender. Doch vor dem Haus der Hus sehe ich keine wattierten Hosen, geflickten Jacken, ausgeleierten Unterhosen oder schlaffe Socken, was darauf hindeuten würde, dass hier jemand lebt. Es gibt überhaupt keine Wäsche. Stattdessen haben die Rosensträucher noch ein paar Blüten, und ein Maulbeerbaum spendet Schatten.
    Ich gehe über den Gartenweg zur Tür und klingle. Eine elegante Frau mit gebundenen Füßen öffnet. Ich würde sie überall erkennen. Es ist Madame Hu. Ich habe schon von den Leuten gehört, die geblieben sind – sie hatten sowohl das Geld als auch die Möglichkeit zu gehen, als sich die Gelegenheit bot, taten es aber nicht. Madame Hu ist eine von ihnen. Zwanzig Jahre sind vergangen, aber sie erkennt mich ebenfalls sofort. Wir beide stehen da und lachen und weinen, weil das alles so unglaublich ist.
    »Komm rein, komm rein.« Sie winkt mich herein und führt mich in den Salon. Es ist, als würde ich in der Zeit zurückreisen. Die Besitztümer der Familie Hu sind immer noch da und gut gepflegt. Niedrige, samtbezogene Sessel und Sofas bilden das Mobiliar des Raums. Der geometrisch gemusterte Fliesenboden ist sauber und glänzend poliert.
    Madame Hu schwankt auf ihren gebundenen Füßen zu einem Sessel. Mir stockt der Atem, denn mich überkommen Erinnerungen an meine Mutter. Als Madame Hu läutet, kommt ein Hausmädchen herein. »Wir brauchen Tee«, bestellt Madame Hu. Dann wendet sie sich mir zu. »Magst du immer noch Chrysanthementee, oder hättest du lieber etwas anderes?«
    Daran erinnert sie sich natürlich. Als May noch ein Baby war, hat mich Mama immer zum Teetrinken mit hierhergenommen. Ich hörte zu, wie die beiden Frauen schwatzten, und durfte etwas von ihrem Tee trinken, der mit zwei Löffeln Zucker gesüßt war. Wenn ich bei ihnen war, fühlte ich mich sehr erwachsen.
    »Ich hätte sehr gerne einen Chrysanthementee«, sage ich.
    Das Hausmädchen geht rückwärts aus dem Zimmer. Tante Hu, wie May und ich sie aus Höflichkeit nannten, als wir noch klein waren, und ich sehen einander lange an. Was fühlt sie, wenn sie mich anschaut? Enttäuschung darüber, dass ich meine gewöhnliche Arbeiteruniform trage? Oder sieht sie durch die Kleidung hindurch den Menschen, der ich geworden bin? Wenn ich sie ansehe – und ich gebe es zu, ich schaue ganz genau hin, ich sauge sie ein –, dann ist es, als würde ich meine Mutter sehen, wenn sie noch am Leben wäre. Tante Hu ist nicht so klein, weil sie alt ist oder so viel durchgemacht hat, sondern weil sie, genau wie Mama, einfach zierlich ist. (Ich weiß noch, wie

Weitere Kostenlose Bücher