Tochter des Glücks - Roman
nennen es alle die Neue Gesellschaft und das Neue China, aber es ist wie in der alten Zeit, von der mir meine Großmutter erzählt hat, als die Wohlhabenden das Äußere ihrer Anwesen einfach und farblos gestalteten, damit die umherziehenden Banditen oder Neider nichts von dem Wohlstand ahnten, der sich hinter den Mauern verbarg. Unsere Vorfahren mögen sich innerhalb ihrer Anwesen vielleicht prachtvoll in bestickten Brokat und Seidenstoffe gekleidet haben, aber wenn sie auf die Straße gingen, trugen sie einfache, schmucklose Sachen, damit sie nicht entführt und gegen Lösegeld als Geisel genommen wurden. Genau das machen wir jetzt! Nur« – sie schnaubt schalkhaft – »wir in Shanghai haben unser hai pah nicht verloren.«
Das stimmt, in Shanghai hatte man immer einen ganz eigenen Sinn für Stil.
»Ich schicke immer noch mein Hausmädchen aus, um Pfingstrosen zu kaufen, wenn sie in Blüte stehen. Ich muss sie irgendwo hineinstellen. Warum nicht in diese Vase?«, fragt Tante Hu und deutet auf eine Art-déco-Glasvase, in die eine nackte Frau eingraviert ist. Sie sieht mich wieder an. »Wo wohnst du?«
»In meinem alten Haus, aber so sieht es dort nicht mehr aus.«
»Ich weiß.« Mitleidig schüttelt sie den Kopf. »Nach den Bombardements von 1937 – es ist jetzt so lange her – gingen wir zu euch, nachdem ich nichts von deiner Mutter gehört hatte. Wir trafen dort auf Mieter. Eher Hausbesetzer. Sie erzählten uns von der Grünen Bande. Onkel dachte, ihr wärt alle vier tot, aber ich kannte deine Mutter. Sie hätte es nie zugelassen, dass euch beiden Mädchen etwas zustößt.«
»Ich weiß nicht, was aus Baba geworden ist, aber Mama, May und ich haben Shanghai gemeinsam verlassen.« Ich lange unter meinen Ärmel und ziehe den Armreif meiner Mutter herunter. Tante Hus Augen blitzen, als sie den Reif erkennt. Ich muss ihr die schrecklichen Einzelheiten nicht erzählen. Ich beschränke mich auf die einfache Version. »Sie hat es nicht bis Hongkong geschafft.«
Tante Hu nickt düster, spricht mir jedoch kein Beileid aus. Wie sie vorher schon sagte, wir alle haben Menschen verloren.
»Wie auch immer«, fährt sie fort, »ich war alle paar Jahre bei eurem Haus. Ich habe gesehen, wie diese Mieter damit umgegangen sind. Aber es könnte schlimmer sein. Euer Haus wurde vor der Befreiung aufgeteilt. Man hat es keinen neuen Leuten zugeteilt. Rechne nur nicht damit, dass diese Nägel jemals herausgehen.«
»Nägel?«
»Die Leute, die in deinem Haus wohnen. Sobald sie einmal drin sind, kann man sie nie mehr herausziehen. Aber es muss nicht unbedingt so aussehen«, schimpft sie in mütterlichem Tonfall. »Geh ins Leihhaus. Bestimmt findest du ein paar Dinge, die früher deiner Familie gehörten, und du kannst sie zurückkaufen.«
»Ich bezweifle, dass sie nach all der Zeit noch da sind.«
»Du wärst überrascht. Wer sollte während des Kriegs mit den Japanern oder später während des Bürgerkriegs etwas kaufen? All die Arbeiter, die du auf der Straße siehst? Woher sollten sie wissen, was sie kaufen sollen, selbst wenn sie das Geld hätten? Sie sind keine echten Shanghaier. Sie haben kein hai pah . Du solltest dich nicht davor fürchten, so zu leben, wie du früher gelebt hast.«
»Wenn das stimmt, was du sagst, wo sind dann die Nachtclubs? Wo ist die Musik? Wo geht man tanzen?«
»In einem Club die Nacht durchzutanzen ist etwas völlig anderes, als etwas zu besitzen. Außerdem spielen manche Leute – von sehr hohem Rang – westliche Instrumente, tanzen zu westlicher Musik … Die Kommunisten behaupten, sie seien rein und dem Volk zugetan, aber wenn man hoch genug hinaufgeht, sind sie sehr korrupt. Doch das ist alles egal.« Sie beugt sich vor und tätschelt mir das Knie. »Du musst dein Haus herrichten, auch wenn diese Nägel dort sind.«
»Und wie soll ich das anstellen? Wird das niemand melden?«
»Mich hat keiner gemeldet.«
»Du lebst allein.«
Sie zuckt zusammen, und ich bereue meine Bemerkung sofort. Doch sie ist eine Frau der alten Traditionen. Sie beschließt, meine Unhöflichkeit zu ignorieren, als wäre ich bloß ein unerzogenes Kind.
»Vergiss nie, dass wir hier in Shanghai sind. Vergiss nie, dass du aus Shanghai stammst. Vergiss nie dein hai pah . Das trägst du in dir, ganz egal, welche Kampagne dieser fette Vorsitzende lostritt.«
Später bringt sie mich zur Tür. Sie nimmt meine Hand und betrachtet den Armreif meiner Mutter. »Deine Mama hatte dich immer am liebsten.« Dann legt sie die
Weitere Kostenlose Bücher