Tochter des Glücks - Roman
die beiden sich sorgten, als ich immer weiter wuchs und schließlich größer wurde als sie beide, größer gar als mein Vater. Damals gab es sorgenvolle Gespräche, ob ich mit meiner unschönen und unweiblichen Größe wohl jemals einen Mann finden würde.)
Tante Hu war immer mode- und stilbewusst, wieder genau wie Mama, und sie ist auch jetzt schön gekleidet. Sie trägt eine dunkelblaue Seidentunika mit kunstvollen Knebelverschlüssen am Hals, über der Brust und an der Seite. Ihr Schmuck ist erlesen – fein gearbeitete Ohrringe aus Jade und Gold, eine Brosche und eine einfache Kette. Ich werfe einen Blick auf ihre Füße, und auch sie sind genau so, wie ich sie in Erinnerung habe – makellos gepflegt stecken sie in bestickten Seidenschuhen. Den Geruch, der von diesen zierlichen Gliedmaßen ausgeht – eine ganz eigene Mischung aus verwesendem Fleisch, Alaun und Parfüm –, habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gerochen. Am meisten erstaunt mich, dass Tante Hu jung aussieht, zumindest jünger, als ich mir vorgestellt hätte. Dann wird mir bewusst, dass Mama erst siebenundfünfzig wäre, wenn sie noch lebte.
»Du hättest nicht zurückkommen sollen«, sagt Tante Hu. »Es ist gefährlich für dich.«
»Ich musste es tun.« Ich erzähle ihr von meiner Tochter und dass ich nach Shanghai zurückgekehrt bin, um sie zu suchen.
Tante Hu schüttelt den Kopf. »So viel Kummer und Leid, nicht wahr? Und doch müssen wir weiterleben.«
»Und du, liebste Tante, warum bist du geblieben?«
»Das ist unser Zuhause«, antwortet sie. »Ich wurde hier geboren. Mein Mann wurde hier geboren. Unsere Eltern und Großeltern wurden hier geboren. Und natürlich wurde Tommy hier geboren und auch hier begraben. Ich kann ihn doch nicht verlassen! Und auch nicht meinen Mann!«
»Wie geht es Onkel Hu?«
Sie antwortet nicht direkt. »Als Mao und seine Kumpanen die Macht ergriffen, machten sie es sich zum Ziel, jeden zu enteignen. Aber nicht alles ging sofort in Staatseigentum über. Es war ein langer, quälender Prozess, bei dem sie Menschen wie uns durch hohe Steuern unserer Existenz beraubten. Wir mussten unseren Besitz Stück um Stück aufgeben. Schließlich übernahm die Regierung unsere Fabrik. Onkel musste in der Fabrik, die sein eigener Großvater gebaut hatte, den Boden wischen. Doch diese Missgeburten einer Schildkröte hatten keine Ahnung. Die Produktion ging zurück. Arbeiter wurden verletzt. Sie baten meinen Mann, seinen früheren Posten als Fabrikdirektor wieder einzunehmen, aber mit derselben Bezahlung, die er als Reinigungskraft erhalten hatte.« Sie hält inne und holt Luft. »Innerhalb von zwei Jahren war er tot. Jetzt gehört die Fabrik der Regierung, aber ich besitze noch mein Haus.«
»Das tut mir leid, liebste Tante. Es tut mir leid wegen Onkel.«
»Am Schicksal kann man nichts mehr ändern, und wir alle haben Menschen verloren.«
Das Hausmädchen kehrt zurück und schenkt den Tee ein. Ohne zu fragen, gibt Tante Hu zwei Löffel Zucker in meine Tasse, bevor sie sie mir reicht. Ich habe seit Jahren keinen Tee mit Zucker mehr getrunken. Der Geschmack, zusammen mit dem Chrysanthemenduft und dem Geruch, der von Tante Hus gebundenen Füßen aufsteigt, ist ein bisschen widerlich, und doch versetzt er mich in die Sicherheit, den Luxus und die Behaglichkeit meiner Kindheit zurück.
»Wie kommt es, dass du immer noch so lebst?«, frage ich geradeheraus und vergesse dabei ganz meine Manieren.
»Es ist gar nicht so schwierig, das alte Leben aufrechtzuerhalten«, gibt sie zu. »Das tun viele von uns. Ich habe Hausmädchen, weil wir sie nach der Befreiung nicht gehen lassen durften.« Sie gestattet sich ein zartes Kichern. »Der Vorsitzende Mao wollte nicht, dass wir die Arbeitslosigkeit noch zusätzlich erhöhen.«
Das könnte auch die Hausmädchen von Z. G. erklären, allerdings wären sie vor acht Jahren noch kleine Mädchen gewesen.
»Ich habe immer noch meine Schneiderin«, fährt sie fort. »Ich könnte dich zu ihr bringen, wenn du möchtest. Deiner Mutter würde das gefallen.« Aber damit beantwortet sie meine Frage nicht, und das weiß sie. »Ich halte die Vorhänge geschlossen, so wissen die Leute nicht, wie ich lebe. Wenn du in dieser Straße in irgendein Haus guckst, entdeckst du Haushälterinnen, Hausdiener, Hausmädchen, Köche, Gärtner und Fahrer. Auch in der Neuen Gesellschaft müssen wir dafür sorgen, dass unsere Häuser sauber und aufgeräumt sind.«
Tante Hu verzieht sarkastisch das Gesicht. »Sie
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