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Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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zahlreiche Märkte zu gehen, zu schneiden, zu kochen und sauber zu machen. Um diese Zeit tragen sie Thermoskannen zum Heißwasserladen oder Körbe zu den von der Regierung betriebenen Geschäften, um frische Sojamilch und Schmalzgebäck zu holen. Ich sehe viele Dienstboten: Bauernmädchen – Mädchen vom Lande, die man leicht an ihren geblümten Blusen, den mit einer Schnur zusammengebundenen Baumwollhosen und selbst gemachten Schuhen mit Papiersohle erkennt – stehen in langen Schlangen, die Lebensmittelmarken ihrer Herrschaft in der Hand.
    Als mein Bus kommt, quetsche ich mich mit den anderen Arbeitern hinein – die meisten von uns tragen monotone Blau- und Grautöne, nur selten leuchtet einmal Rot oder Gelb heraus, wenn sich jemand ein Tuch um den Hals oder die Haare gebunden hat. Der Bus biegt wieder in ein Meer von abertausenden Radfahrern auf Rädern der Marke Eternal ein. Wir fahren durch Hongkew, über die Waibaidu-Brücke und auf den Bund. An meiner Haltestelle steige ich aus und eile an meinen Arbeitsplatz. Es ist wichtig, nicht zu spät zur Arbeit am sozialistischen Aufbau zu kommen.
    Ich melde mich bei meinem Vorgesetzten, hole meinen Korb und die anderen Gerätschaften ab und trete wieder hinaus auf den Bund. Jetzt weiß ich, warum die einst prächtigen Häuser im westlichen Stil mit Netzen behängt sind. Sie sollen Leute auffangen, die Selbstmord begehen wollen. Ich wende den Blick ab und schaue hinaus auf den Whangpoo. Jeden Morgen und jeden Abend sehe ich mir die Schiffe an, die auf dem Fluss verkehren. Vor zwanzig Jahren haben May und ich China mit einem Fischerboot verlassen, aber das wäre jetzt unmöglich. Kontrollboote können jedes Fahrzeug auf dem Fluss oder auf See anhalten, und auch die Kriegsschiffe im Hafen machen mich nervös.
    Nun denn, an die Arbeit. Ich bin ein kleines Rädchen in der großen Maschine, die von den Kommunisten »Grundsäuberung« genannt wird. Wenn alles reibungslos funktioniert, wird bald alles, was als westlich, »sündhaft und korrupt« oder individualistisch, einzigartig und schön galt, vom Erdboden verschwunden sein. Heute wurde mir der Bereich zugeteilt, der früher die Französische Konzession war. All die alten Namen – die Französische Konzession, die Internationale Siedlung, sogar die chinesische Altstadt – sind verschwunden. Jetzt heißt es einfach nur Shanghai. Ich werde die nächsten Stunden damit zubringen, durch Straßen und Gassen zu ziehen und Papier vom Boden aufzuheben oder alte Plakate und Werbung von Haus- und Ladenwänden abzureißen.
    Es heißt, wenn man in sein Heimatland zurückkehrt, sei das, als würde man zu seiner Mutter zurückkehren, aber ich empfinde es nicht so. Diese Arbeit gab mir Gelegenheit, die Veränderungen in meiner Heimatstadt zu sehen – von den intimsten Einzelheiten des Alltags bis hin zu den größeren Auswirkungen des Kommunismus auf das, was einst als das Paris Asiens galt. Ich sehe Straßenkehrer, Müllwagen und Menschen wie mich – Sammler aller Art –, und dennoch liegt jeden Tag wieder neues Papier und anderer Müll auf den Straßen. Es scheint, als hätten die Leute Angst, alles auf einmal wegzuwerfen. Ich habe alte Etiketten und Verpackungen von Produkten und Firmen entdeckt, die es in der Stadt gar nicht mehr gibt – Flaubert’s Furs, Lion Brand Tooth Powder und British American Tobacco. Ich habe alte politische Bekanntmachungen und Anschläge von Wänden und Türen abgerissen. Ich habe längst weggeworfene Liebesbriefe, Tempelopfergaben und Fotografien gefunden. Ich habe sogar Hochzeitssprüche aufgesammelt, die aus übervollen Mülleimern auf die Straße gefallen waren. Während ich die Sprüche in meinen Korb stopfte, habe ich mich oft gefragt, ob die Ehe in der Neuen Gesellschaft nur noch ein Wegwerfartikel ist, ohne Rücksicht auf Bräuche, Tradition, Liebe oder gute Wünsche. Heute finde ich eine Quittung von einer Fabrik, die Waagen herstellt. Ein Stück weiter wehen einzelne Briefbögen der Overseas Banking Company über die Straße wie Staub.
    Gegen zehn komme ich an einen regierungseigenen Freiluftmarkt. Der erste morgendliche Ansturm ist vorüber, und außerhalb des Marktes häufen sich weggeworfene Kohlblätter, faules Obst, Fischgräten und -innereien. Ein Müllwagen hält an und lädt alles auf. Als er losfährt, ist die Straße wieder sauber. Für mich steht das sinnbildlich für das neue Shanghai. Aus der Stadt wurde das Leben weggesäubert. Die Ausländer, die einst in Shanghai

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