Tochter des Glücks - Roman
Finger um den Armreif und schiebt ihn mir unter den Ärmel meiner Jacke. »Bitte komm mich wieder besuchen.«
Ich sammle noch eine Stunde lang Papier auf, bevor ich zurück ins Büro gehe und den Großteil dessen, was ich gesammelt habe, abgebe. Es ist jetzt dunkel, und ich habe noch ein paar letzte Dinge zu erledigen, bevor ich nach Hause gehe. Zuerst begutachte ich die Schiffe und die Sicherheitsmaßnahmen entlang des Bunds. Der Vorsitzende Mao befehligt keine große Marine: Wäsche hängt an Leinen, über Geschützen hängen Kappen und Kleidungsstücke, Matrosen sitzen an Deck und essen Nudeln aus Schalen. Die Suppe muss kräftig und schmackhaft sein, denn der Duft von Ingwer, Frühlingszwiebeln und frischem Koriander weht zu mir herüber. Eines steht fest: Die Matrosen achten auf wenig außer ihrem Essen.
Ich nicke vor mich hin und statte dann wie jeden Abend dem Haus von Z. G. einen Besuch ab. Vorige Woche wurden die Dienstmädchen schließlich sehr ärgerlich, weil ich so spät noch klingelte, daher tue ich das nun nicht mehr. Ich stelle mich hinter einen Busch auf der anderen Seite des Gehwegs und beobachte, welche Lichter im Haus angehen. Irgendwann werde ich dabei meine Tochter sehen, aber nicht heute Abend.
Dann geht es weiter zur Methodistenmission, die ich als Mädchen besuchte. Ich komme jeden Tag hierher. Wie viele andere traue ich mich nicht hinein. Ich setze mich auf den Randstein auf der anderen Straßenseite. Ich bleibe nicht lange allein. Ein paar Frauen nähern sich, und es scheint, als würden sie große Schatten der Erinnerung hinter sich herziehen. Sie setzen sich neben mich auf den Randstein.
Der Vorsitzende Mao ist gegen jegliche Religion, ob chinesisch oder westlich, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Menschen wie ich, die an einen einzigen Gott glauben, sollen »den Weg des Sozialismus beschreiten«, »rechte Elemente bloßstellen, die sich hinter dem Schleier des Christentums verbergen«, und »entschlossen gegen antikommunistische, antisozialistische Aktivitäten von Reaktionären, Vagabunden und üblen Elementen angehen, die Kirche und freies Predigen als Fassade benutzen.« Sie können mir befehlen, was ich zu tun habe, aber vom Beten können sie mich nicht abhalten.
Ich erzähle Gott, wie sehr ich Orte und Menschen vermisse, die ich verloren habe. Ich frage nach Joy. Vermisst sie Chinatown, so wie ich als junge Frau in einem neuen Land Shanghai vermisst habe? Vermisst sie ihre Großeltern, ihre Tante und ihren Onkel, ihre Mutter und ihren Vater, so wie ich meine Eltern, meine Schwester und Sam vermisse? Ich lasse es zu, dass die Trauer um Sam in mir hochkommt. Ich lasse den Kopf sinken, die Schultern hängen nach unten, mein Rücken ist gebeugt.
Vielleicht ist es besser, dass ich nun in Shanghai bin. Zu Hause hätte mich alles an ihn erinnert: der Fernsehsessel, seine Lieblingsschüssel, seine Kleidung, die immer noch in dem Wandschrank hängt, in dem er Selbstmord begangen hat. Ginge ich in Chinatown aus dem Haus, würde ich die Orte sehen, die wir gemeinsam besucht haben, das Café, in dem wir gearbeitet haben, den Strand, an dem wir zum Picknick waren. Auch den Fernseher würde ich nicht einschalten, denn ich würde keine der Sendungen sehen wollen, die wir immer gemeinsam angeschaut haben. Und was wäre, wenn ich eines unserer Lieblingslieder im Radio hören würde? Das alles wäre nicht zu ertragen. Aber jetzt bin ich in Shanghai. Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen, die Gegenwart verändern oder die Zukunft beeinflussen.
Ich beende mein Gebet mit einer besonderen Bitte an Gott, über meine Tochter und Z. G. zu wachen. Ich habe keine Sekunde vergessen, dass seine Hausmädchen sagten, er stecke in Schwierigkeiten, ich hoffe also, er beschützt die beiden, wo auch immer sie sein mögen. Ich bete das Vaterunser und stehe auf. Ein Messerschleifer rollt seinen Karren durch eine Gasse zu meiner Rechten, schüttelt metallene Rasseln und ruft: »Lasst eure Scheren schleifen, und schneidet alles Unglück damit ab. Schärft eure Hackbeile, damit ihr sämtliche Katastrophen mit einem Hieb loswerdet.«
Im Bus herrscht das übliche Gedränge. Ich steige an meiner Haltestelle aus und eile zur politischen Versammlung unseres Viertels. Man hat mir gesagt, ich hätte mich durch meine »aktive Teilnahme« gut gemacht. Doch ich kann diese Versammlungen nur als Gehirnwäsche bezeichnen. Ich lausche den Vorträgen, skandiere Parolen und mache mit, wenn die anderen einen Nachbarn
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