Tochter des Glücks - Roman
Industrie!
Ich schreibe ihr nicht, dass das, was wir geschmolzen haben und dann auf Trockenbretter gießen, gar nicht aussieht wie der Stahl, den ich aus der Wochenschau kenne. Was stattdessen herauskommt, sind stumpfe, rötliche, sandige Klumpen. Abgekühlt sehen sie dann aus wie nui-shi-ge-da – Kuhfladen. Ich kann mir nicht vorstellen, was man daraus machen soll. Bestimmt keine Traktoren, T-Träger oder Textilmaschinen, denn dafür ist das Material nicht stark genug. Soweit ich das beurteilen kann, ist es reine Verschwendung von Zeit, Energie und Schweiß – und alles ohne Entlohnung. Doch wenn ich das laut äußerte, würde ich für meine zu kapitalistische Denkweise öffentlich von den anderen Mietern und dem Blockkomitee kritisiert werden.
Die größte Neuigkeit ist, dass letzten Monat die erste Volkskommune gegründet wurde. Sie umfasst 40 000 Menschen! Der Vorsitzende Mao sagt: »Die Volkskommune ist großartig!« Ich war noch nicht auf dem Land und kann mich nur darauf verlassen, dass der Vorsitzende Mao erzählt, was er mit eigenen Augen gesehen hat. Er sagt, auf dem Land reichen die Getreidesäcke bis zum Himmel. Ja, wir sind auf dem Weg, die Vereinigten Staaten zu überholen. Bald wird China Getreide zu Euch exportieren!
Alles Liebe, Pearl
Schließlich kommt ein Brief, aber es ist keine Antwort auf meine Nachricht über den Großen Sprung nach vorn. Er ist auf den 1. März datiert, und May muss ihn geschickt haben, nachdem sie meinen Brief mit der Nachricht erhalten hat, dass Joy nach Shanghai zurückgekehrt ist. Ein guter Teil davon wurde geschwärzt. Übrig geblieben sind hauptsächlich Fragen, auf die nicht nur May, sondern offenbar auch die Zensoren und Inspektor Wu eine Antwort möchten. »Wo war Joy die ganze Zeit über? Wenn Joy nicht bei Dir wohnt, wo lebt sie dann? Wer hat ihr etwas zum Anziehen gekauft? Wer es dieser Tao, den Du erwähnt hast? Das hört sich nicht gut an. Sie ist kein Mädchen, das man für ein paar Meter Stoff kaufen kann.« Die Zeile verrät mir mehr als jede andere, dass May keine Ahnung hat, was hinter dem Bambusvorhang vor sich geht. Es gibt keine unzüchtigen Mädchen mehr. Dann stellt sie die Frage, die ich schon seit geraumer Zeit erwarte. »Hast Du Z. G. gefunden? Es wird Dir nicht leichtfallen, aber Du musst versuchen, ihn zu finden. Wir alle waren damals gut miteinander befreundet. Er muss uns helfen.«
Diesen letzten Teil lese ich mehrmals. Jämmerliche Eifersucht steigt in mir hoch, aber wie kann es denn sein, dass ich eifersüchtig bin – nach all den Jahren? Ich bin hier, um meine Tochter mit allen Kräften dazu zu bringen, sich zu erinnern, wer oder was sie ist, doch irgendetwas in mir hängt immer noch unwichtigen Dingen von vor zwanzig Jahren nach. Ich rufe mir all die Briefe ins Gedächtnis, die ich seit meiner Ankunft in Shanghai von May bekommen habe. Hat sie zuvor schon einmal nach Z. G. gefragt? Nein, aber er war in jedem ihrer Briefe präsent: »Triffst Du Leute aus der Vergangenheit? Wie ist es unseren damaligen Freunden ergangen?« Wie oft habe ich ihre Fragen ignoriert, habe sie noch mehr geschwärzt als die Zensoren? Sicher, hie und da habe ich geantwortet: Soundso ist im Krieg gestorben, war ein Held, wurde erschossen oder ist geflohen … Aber Z. G. habe ich mit keinem Wort erwähnt. Warum? Ein verbitterter Teil von mir wollte das geheim halten. War das meine Rache für die Rolle, die May bei Sams Tod spielte? Wie kann das sein, denn jetzt weiß ich doch, dass sie gar keine Schuld daran trägt?
Keiner von uns ist vollkommen. Ich bin nicht die Gute, für die ich mich immer hielt. Ich schäme mich zu sagen, dass ich nicht zurückschreibe, weil ich Dinge sagen könnte, die ihr richtig wehtun würden. Seit Joy mich hier allein besucht hat, führen mich Z. G. und sie einmal die Woche zum Essen aus. Ich könnte May erzählen, dass Z. G., Joy und ich erst gestern Abend gedämpften Krebs mit klarer Brühe, Dreierlei von der Ente und Fisch mit Mandarinsauce – alles Spezialitäten aus Shanghai – in einem Restaurant am Bund gegessen haben. Ich könnte darüber schreiben, wie schön Joy aussah und dass sich die Spannung zwischen uns zu lösen scheint, dass mich Z. G. aber anstarrte in dem roten Kleid, das May selbst vor langer Zeit so geliebt hat. Ich könnte schreiben, dass wir drei manchmal im Yu-Garten spazieren gehen. Oder dass wir entweder bei mir oder bei Z. G. im Viertel gemeinsam an den Hinterhofhochöfen gearbeitet haben. Wir haben uns gut
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