Tochter Des Krieges
heiligen Michael auch zu ihr geschickt, um sie auf denselben Kampf vorzubereiten? Meinte Gott, er brauchte jemanden, der einspringen konnte, für den Fall, dass Thomas versagte?
Glaubte Gott denn nicht an ihn?
Thomas ließ den Kopf sinken und weinte, nun vollkommen unfähig, sich der Ruhe des Gebets und der inneren Einkehr hinzugeben. Vielleicht hatte er ja schon versagt, denn er genoss den weltlichen Luxus des Savoy Palace, anstatt im Konvent am Bramhamer Moor die Geheimnisse von Wynkyns Schatulle zu lüften.
Thomas.
Thomas hob den Kopf, das Gesicht bleich und tränenfeucht. »Heiliger Michael?«, flüsterte er.
Vor ihm war nichts als die eisige Finsternis vor der Morgenröte. Gar nichts…
Thomas.
Er drehte sich um und blickte hinter sich. Nichts, außer dem blanken Stein der Außenmauer des Gemachs.
Er richtete den Blick wieder nach vorn und rang nach Luft.
Etwa zwei Fuß vor ihm schwebten zwei Hände in der Luft, die von einem sanften, goldenen Leuchten umgeben waren. Es waren die faltigen, tröstenden Hände eines alten Mannes, die mit der Handfläche nach oben ausgestreckt waren, als wollten sie Thomas ihre Wärme schenken.
Ohne nachzudenken, streckte er die eigenen kalten Hände aus, und im selben Moment ergriff der Erzengel sie und nahm sie in die seinen.
Thomas, du darfst nicht zweifeln, auch wenn dein Weg im Dunkel zu liegen scheint.
»Ich habe so viel Zeit verschwendet, dass die Dämonen die Schatulle inzwischen sicher längst gefunden haben. Ich…«
Thomas, vertraue auf Gott. Selbst wenn die Schatulle den Dämonen in die Hände fällt, werden und können sie ihren Inhalt nicht zerstören. Und während ihr und ihrem Inhalt nichts geschehen kann, kann den Dämonen hingegen Einhalt geboten werden. Du bist Wynkyns Nachfolger. Du allein kannst die Geheimnisse gegen die Dämonen einsetzen. Es mag einen Monat dauern, ein Jahr oder länger, aber sie können dich nicht mehr lange von der Schatulle fernhalten. Sie wird von dir ebenso angezogen wie du von ihr. Vertraue mir.
Thomas brach wieder in Tränen aus, aber diesmal aus Dankbarkeit für den Trost, den der Erzengel ihm mit seiner Berührung und seinen Worten spendete.
»O Heiliger, ich danke dir! «
Der Griff des Erzengels verstärkte sich und erfüllte Thomas mit einem Gefühl von Inbrunst und Ehrfurcht.
Thomas, auch wenn die Dämonen die Schatulle nicht zerstören und sie dir nicht ewig vorenthalten können, lässt sich das Böse, das sie über die Christenheit gebracht haben, nicht mit Worten beschreiben.
»Sie benutzen Ideen als Waffen und machen die Menschen unzufrieden mit ihrem Los und mit Gott.«
Ja.
»Sie müssen über große Überzeugungskraft verfügen, dass ihnen im Reich der Menschen so viele freiwillig dienen.«
Thomas spürte, wie der Erzengel zögerte und seine Hände losließ. Deshalb ergriff er nun seinerseits die Hände des Erzengels, als wollte er ihm Trost spenden.
Das ist noch nicht alles, Thomas. Die Macht der Dämonen hat zugenommen, aber auch ihre Verzweiflung. Sie fürchten dich, und sie fürchten Jeannette – Jeanne. Seit vielen Jahren hätscheln sie in ihrer Mitte eine dunkle, krebsartige Wucherung, die sie ihren Kronprinzen nennen. Sie werden ihn bald auf den Thron setzen, und dann wird er der große Dämonenkönig werden, dessen Aufgabe es sein wird, dir und Jeanne Einhalt zu gebieten und diese Welt ein für allemal den Dämonen zu überlassen.
Thomas öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, und erinnerte sich dann wieder an etwas, das der Erzengel ihm gesagt hatte, als er ihn in Domrémy mit seinem Erscheinen beehrt hatte.
»Der englische König… «
Er wird derjenige sein. Um ihrem Prinzen die größtmögliche Macht zu verleihen, werden die Dämonen ihn auf den Thron setzen.
»Aber… aber… der schwarze Prinz wird auf den Thron gelangen, wenn Eduard stirbt, und ich glaube nicht, dass er ein Dämon ist.«
Es zieht eine Dunkelheit herauf, Thomas. Eine Dunkelheit, die ich nicht ganz durchdringen kann. Alles, was ich weiß und was ich dir sagen kann, ist, dass der uralte Thron der englischen Könige, die von König David selbst abstammen, bald von einem dämonischen Kronprinzen besetzt sein wird.
»Was kann ich dagegen tun?«
Halte dich bereit, Thomas. Der Dämonenkönig wird dich als das erkennen, was du bist – die Waffe Gottes –, und er wird nach dir suchen. Ihr werdet im entscheidenden Kampf gegeneinander antreten. Doch selbst mit der Macht, die ihm zur Verfügung steht, kann er dich nicht
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