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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Milch, sie lebt also noch. Ursula steht schweigend neben dem Zuber, die Hände vor der Brust gefaltet, aber es sieht so aus, als würde das Agnes nichts ausmachen, die mit ihren großen, wasserfarbenen Augen das Kind ansieht. Das Kleine gibt keinen Laut von sich, als sie es wieder in die Tücher wickeln. Und mit einem Mal wird Mechthild unruhig, das Kind könne stumm sein. Der Schmerz hat sich verzogen, Ursula sieht sie mit einem Ausdruck an, der wie aus goldgelbem Feuerstein gemeißelt und unmöglich zu deuten ist.
    »Wird sie …«, fleht Mechthild um Prophezeiungen und Versprechen, die ihr niemand geben kann. Trotzdem nickt Ursula gnädig. Hinter ihr ist der Raum dunkel, die Flammen der Feuerstelle werfen einen glühenden Schimmer auf die Wände, ein Kranz aus Strahlen um Ursulas Haar, der sie wie ein Engel erscheinen lässt. Ein müder, alter Engel ohne weißes Gewand und ohne Goldkranz im Haar. Mechthild richtet sich im Bett auf. Sie haben bereits die schöne, mit Stickereien verzierte Decke über die Leinen gelegt, sodass sie bald Kindbettgäste empfangen kann. Das ist ein gutes Zeichen.
 
    »Schau, jetzt saugt sie«, Mechthild lacht, obwohl ihr das im Schoß weh tut. Vielleicht musste sich das Kleine auch nur ein wenig erholen. Sie saugt nicht gierig und ist schnell satt, aberdann muss sie eben ein paar Mal öfter an die Brust ihrer Mutter gebracht werden. Heimlich freut sich Mechthild darüber, dass es niemand wagen wird zu sagen, das Kleine nehme Schaden davon, aus ihrem aufgedunsenen, schmerzenden Körper zu trinken. Dieses Kind wird, so Gott will, ihr letztes sein, und mit der Milch wird sie ihm alle ihre guten Eigenschaften geben. Sie hat von Edelfrauen gehört, die ihre Kinder von einfachen Bauersfrauen stillen lassen, findet den Gedanken, Hohes mit Niedrigem zu mischen, aber unnatürlich und abscheulich.
    Danach ist das Kind noch bleicher als zuvor, sie hat wächserne Haut, und Blutergüsse umgeben die Pupillen. Sie zittert und zuckt, und Agnes wird geschickt, Wolldecken zu holen, die sie über das Kleine legen können. Mechthild isst ein paar Löffel voll Suppe, die Kristin ihr an die Lippen hält, hat aber selbst keine Kräfte, den Löffel zu halten. Kristin hilft ihr, aber Mechthild stößt ihre Hand weg, sodass die Suppe über Kristins Ärmel läuft. Ursula schickt Kristin zurück an ihr Nähzeug und übernimmt die Fütterung. Warum sowohl Mechthild als auch Hildebert Anstoß an der stillen und demütigen Kristin nehmen, versteht sie nicht, das Mädchen tut doch gar nichts. Es muss wohl der Wechselhaftigkeit ihres Temperaments zugeschrieben werden.
    Hildebert nahm zu seiner Zeit Mechthild wegen ihres runden Gesichts und ihres weichen Körpers. Ihr Vater war Großbauer, aber sie bekam keine besondere Mitgift. Ursula dachte damals, das sei gut, er konnte sie verlassen, sollte sich zeigen, dass sie unfruchtbar war. Er wurde mit vielen Kindern beschenkt, aber auch mit einer eigensinnigen Frau, deren Gemüt mit jedem Jahr, das verging, streitbarer wurde – auch wenn Hildebert das in seinem vollen Umfang bislang nicht erkennt, weil Mechthild es versteht, in seiner Gegenwart ihr Mundwerk zuzügeln. Aber die Dienstmädchen und Hofknechte merken es, laufen nervös zusammen, wenn Mechthild durch die Säle schreitet oder Küche und Werkstätten inspiziert. Dieses Temperament wird sich das Kind hoffentlich nicht mit der Muttermilch aneignen, denkt Ursula und führt den Löffel an Mechthilds Lippen. Ebenso wenig wie die Ungeschicklichkeit, die jede Handarbeit in Mechthilds Fingern zweitklassig werden lässt. Aber ihre Gesundheit ist die eines Ochsen, und das ist genau, was das Kind braucht, denkt Ursula und sehnt sich bereits danach, wieder zurück in Sponheim zu sein. Sobald die vierzig Kindbetttage überstanden und die verborgenen Innereien in Mechthilds Schoß wieder zusammengewachsen sind, werden sie und Kristin sofort nach Hause zurückkehren. Dann wird das Kind womöglich tot und begraben sein, und Mechthild wird klagen und heulen, wie sie es bei den Zwillingen getan hat. Es war eine Schande, als würde sie sich weigern, Gottes Willen anzuerkennen, undankbar darüber, trotz allem sieben lebendige Kinder zu haben. Wenigstens das hat Vater Cedric inzwischen in Ordnung gebracht. Niemand beichtet so fleißig wie Mechthild.
    »Sie wird schon überleben«, sagt Ursula, ohne selbst wirklich daran zu glauben und ohne eine Miene zu verziehen. Mechthild verlangt, man möge das Kind wieder zu ihr ins Bett

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