Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
fürchtete, es könnte unpassend sein. Gleichwohl beschleichen sie Trotz und Missmut immer noch genauso wie in dem Moment, als sie erfuhr, dass Sophia zu Hildeberts Ersuchen ja gesagt hatte. Es ist, als habe Mechthild ihr etwas gestohlen, und ihre Tante wird ihr mehr und mehr zuwider. Deshalb erzählt sie nicht von dem eleganten Kleid, das diese Gräfin Sophia von Sponheim trägt, sagt nur, es sei aus hellroter Seide, und verschweigt die prachtvollen Stickereien. Am Halsausschnitt und an den Enden der Ärmel sind Sandperlen wie Weintrauben eingenäht, umgeben von dunkelgrünen, aus Seide gestickten Blättern. Ihr kräftiges, kastanienbraunes Haar ist kunstfertig geflochten und unter einem leichten Schleier hochgesteckt. Es vergeht nur ein Augenblick, und die Prozession ist durch das Tor hindurch verschwunden. Kristin setzt sich auf die Bank unter dem Fenster, so weit weg wie möglich von der Feuerstelle und der unerträglichen Hitze.
Mechthild starrt mit leblosem Blick vor sich hin. Sie denkt nicht länger an ihr jüngstes Kind. Sie begleitete sie in Gedanken bis zur Tür der Kirche, wo Vater Cedric sie entgegennahm, und ließ das Kleine dann zusammen mit Hildebert dort zurück.
Auf allen vieren kriecht sie an der Steinwand mit den schwarzen Feuchtigkeitsflecken entlang. Sie schnappt nach Luft und will sich aufrichten, fällt aber vornüber und schürft sich Hände und Knie an den kalten Steinen auf. Also muss sie auf dem Bauch vorwärtsrobben, durch eiskaltes Wasser, das den Stoff ihrer Kleidung durchdringt, den wollenen Umhang und die Unterwäsche aus Leinen darunter, ihren Körper gefühllos machtund schwer werden lässt. Als sie sich nicht mehr bewegen kann, versucht sie zu schreien, aber obwohl sie den Mund weit aufreißt, kann sie nur die heiseren Laute eines Pfaus ausstoßen. Sie ist starr vor Schreck, wird in dünnes, weißes Leinen gewickelt, ein hauchdünnes Leichentuch. Rund herum wird der Stoff gewickelt, wieder und wieder, von unsichtbaren Händen, und ihr wird schwindelig, sie fällt und fällt durch den Stoff und das Wasser, sogar durch den Steinboden fällt sie, sinkt durch die Luft, während der Wind ihr das Leichentuch wegreißt und sie nackt zurücklässt. Ein milder Wind streicht über ihren Körper, der nach Korn und Staub duftet und nicht länger Schmerz oder zerrissenes Inneres ist. Sie wird nie wieder auf die Erde treffen, nie wieder Kleidung tragen, nur eine Feder am Firmament sein, getragen von Licht und Wind.
Als Mechthild aufwacht, sind sie immer noch nicht zurückgekommen. Nur Kristin und das Dienstmädchen sind im Kindbettzimmer. Kristin schläft mit über dem Nähzeug hängenden Kopf, und das Dienstmädchen stochert nutzlos mit einem Schürhaken in der Glut herum. Mechthilds Körper ist träge und schwer von der Wärme und dem Damenhemd, das an ihr klebt. Dennoch erwacht sie mit einem Gefühl der Ruhe und der Gewissheit. Es steht so klar vor ihr, als habe es ihr jemand ins Ohr geflüstert: Sie wird einen Pakt mit dem Herrn eingehen. Lebt Hildegard, soll sie der Kirche gegeben werden, als Oblate, sobald sie acht Jahre alt ist.
5
Zuerst will Hildebert nichts davon hören. Aber als das Kind nach einer Woche immer noch kraftlos und bleich daliegt, gibt er nach. Außerdem hat das Kleine seit seinem Aufschrei und Mechthilds ausgelassenem Lachen keinen Laut mehr von sich gegeben. Wenn Hildegard überlebt, kann sie als Oblate der Kirche anvertraut werden. Er vermeidet es, seine Frau anzusehen, als er zustimmt. Er sollte nicht im Kindbettzimmer sein, aber es ist Nacht und Ursula und Kristin schlafen in der Gästekammer. Er will Mechthild nicht berühren, solange sie unrein ist, also tritt er gegen den Bettpfosten, sodass sie aufwacht und mit einem Ruck hochfährt. Murmelnd antwortet er auf ihr plagendes Drängen, und sie weint vor Erleichterung. Sie flüstert ein klägliches Danke, er nickt, und sie bittet ihn, es niederzuschreiben. Er erklärt sich jedoch lediglich bereit, es Vater Cedric zu sagen. Als die Tür hinter ihm zufällt, setzt sich die kleine Agnes, noch schlaftrunken, bei der Feuerstelle auf. Sie schläft dort auf dem Boden, ganz nah bei dem Kind. Mechthild ist hellwach, tut aber so, als schliefe sie. Im Schein der Glut betrachtet sie Agnes, die aufsteht und zu der Wiege geht, um nachzusehen, ob es das Kleine war, das sie geweckt hat. Doch kein Laut kommt von Hildegard, und so legt sie sich wieder auf ihre Decke und beginnt augenblicklich zu schnarchen. Es ist
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