Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
bringen. Ursula fügt sich ihr, obwohl sie denkt, dass Ruhe für das Kind besser sei; und hebt das Kleine selbst aus der Wiege, wickelt sie in eine Wolldecke und legt sie neben ihre Mutter.
Mechthild dreht sich mühsam und schwerfällig auf die Seite, stützt sich auf den Ellbogen und sieht ihr Kind an.
3
Mechthild zeichnet ein Kreuz über Hildegards Brust. Es ist die Signatur der Ungelehrten, es ist die Zehn, das Kreuz, um ein Achtel gedreht. Zehn ist ein Segen. Das Zehnte vom Hundert ist, was die Kirche bekommen soll. Das Kind kennt den Duft seiner Mutter. Ein Duft voller Trost, eine Zuflucht, in der sie liegen kann. Mechthild zeichnet ein Kreuz auf Hildegards Brust, und die Luft, die sie ausatmet, atmet das Kleine ein. Der Säugling will die Augen aufschlagen, aber die Augenhöhlen sind voll von flüssigem Eisen.
Sie ist geboren mit einem brennenden Licht in der Stirn, dessen Flamme durch Haut und Schädelknochen dringt. Die Stimme ihrer Mutter kennt sie bereits. Zuerst war sie dunkel und drang nur gedämpft zu ihr. Jetzt schneidet sie quer durch ihr Ohr, quer durch die Flamme, die den Ton zu Löchern brennt, die tanzen und zu Glühwürmchen werden, die vor- und zurückzucken und durcheinanderwackeln, schneller und schneller, entzündet von der Flamme im Auge, brennen, brennen, brennen, sodass das Kleine schreit vor Schmerz.
4
Das Neugeborene beginnt mit einer solchen Kraft zu schreien, dass Ursula auffährt und Mechthild sich zuerst erschreckt, dann aber vor Erleichterung darüber lacht, dass ihr Kind so viel Lebenskraft besitzt. Agnes bekommt sie auf die Arme gelegt mit dem Bescheid, das Kleine fester zu wickeln, fummelt herum und schwitzt vor Nervosität über die plötzliche Aufgabe. Als es ihrendlich gelingt, seufzt sie erleichtert. Das Kind ist wieder still. Ein Muster aus zarten rosafarbenen Flecken flackert auf ihrer Stirn und an den Schläfen. Agnes wiegt sie vorsichtig in ihren Armen, nimmt den Duft des kleinen Menschen in sich auf, ein so frischer und besonderer Duft. Einen Moment lässt sie ihre Wange am weichen Kopf des Kindes ruhen, bevor sie es behutsam zurück in die Wiege legt.
Mechthild lachte laut und voller Freude, als Agnes Hildegard wickelte. Jetzt schläft sie wieder, schwer und lang, und träumt fremde Träume, in denen eine Farbe gegen eine andere kämpft, aber nichts Form annimmt.
Als Mechthild aufwacht, ist der Traum immer noch bei ihr, und sie will sich jemandem anvertrauen. Es ist früh am Morgen, Kristin hat in der Gästekammer ein wenig geschlafen, jetzt kommt sie herein, ein blaues Tuch um das schwarze Haar gebunden. Ursula kann sie nirgendwo sehen, und die Frauen sind weg. Agnes wiegt das Kleine in den Armen und legt es Mechthild an die Brust. Das Kind saugt genauso träge wie immer, ein blauer Schimmer umgibt ihre Lippen, und ihre Stirn ist trotz der Wärme im Raum kühl und trocken.
»Schickt einen Boten zu der Frau«, sagt sie und kratzt das Kind leicht am Kinn, damit es wieder saugt.
Kristin zögert, es kann sicher nicht an sie gerichtet gewesen sein. Sie tut so, als habe sie es nicht gehört, und vertieft sich in das Aufwickeln ihres Stickgarns aus der kleinen Tasche mit dem Nähzeug.
Schließlich schickt sich das Dienstmädchen an, Mechthilds Befehl nachzukommen. Doch die Frau kommt nicht bis ins Wöchnerinnenzimmer. Ursula erwartet sie bereits vor der Tür und schickt sie mit ein paar harschen Worten, sich fernzuhalten, fort. Der Ruf, den sie als alltagskluge Geburtshelferin hat, kann sich umkehren, bevor die Sonne untergeht, wenn jemand sie verdächtigt, mit dem Bösen im Bunde zu stehen. Also ist es besser, demütig zu sein und zu gehen, obwohl sie der Herrin des Hauses gerne helfen würde mit dem kranken Säugling. Zum Glück hat sie die Türschwelle nicht betreten. So können sie ihr die Schuld nicht geben, sollte das Kind sterben.
Mechthild kocht vor Wut, als Ursula freimütig erzählt, sie habe die Frau davongejagt, aber sie kann ihre Schwägerin nicht wegschicken, bevor die Kindbetttage vorüber sind. Außerdem ist Ursula umsichtig und schlägt eine andere und bessere Lösung zum Heil des kranken Kindes vor. Sie selbst wird Hildebert zur Kirche begleiten, damit das Kind in das Haus Gottes geführt und in das heilige Wasser des Taufbeckens getaucht werden kann.
»In Wahrheit«, sagt Ursula mit milder und gedämpfter Stimmen, »brauchst du dein Kind nur dem Herrn zu reichen, so wird Er seinen Willen geschehen
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