Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
es recht; sie fühlte sich sicherer, wenn er nicht da war.
Der Herbst schlug erst goldene Kerben ins grüne Laub und schickte dann kühle Winde, die das Laub hinwegfegten. Der Boden war morgens gefroren, und am Abend wurde es früh finster. Runa trug Arvid immer noch oft auf ihrer nackten Haut, um ihn zu wärmen, und manchmal hielt ihn jetzt auch Gisla. Sie betrachtete den Kleinen ehrfürchtig, weil es in ihren Augen ein Wunder war, dass er lebte, und zugleich war sie traurig, weil dieses Wunder anscheinend nicht ausreichte, um auch sie zu retten.
Sie aß, arbeitete fleißig mit, zerstampfte Körner, nähte, webte und kochte. Aber anders als Runa bekam ihr das ruhige Leben nicht: Sie wurde bleicher und dünner und fieberte immer wieder.
Kopfschüttelnd beobachtete Runa sie und verstand nicht, warum es ihr ausgerechnet jetzt so schlecht ging, wo sie es gut hatten wie nie, und warum sie weiter blutete, obwohl die Geburt nun schon so lange zurücklag.
Eines Tages saßen sie am Feuer beisammen, und Gisla hielt Arvid auf dem Schoß. Er konnte seinen Kopf schon eine Weile aufrecht halten, ohne dass man ihn stützen musste, und auf diesem Kopf wuchs ein blonder Flaum, der an Gislas Haar denken ließ. Seine Augen waren groß und blau. Er juchzte. Runa schöpfte wieder Hoffnung. Auch Gisla würde es bald bessergehen. Doch dann wurde sie jäh von der Gefährtin aus ihren Gedanken gerissen.
»Nimm du ihn«, sagte Gisla rau und mit Tränen in den Augen. Runa wollte ihre Hände ausstrecken, aber Gisla hatte etwas anderes gemeint. »Nimm du ihn ganz. Morgen. Für immer. Ich kann nicht für ihn sorgen, ich kann nicht einmal für mich selbst sorgen. Wenn ich so weiterlebe, gehe ich zugrunde.«
Runa hatte Gislas Worten nichts entgegengesetzt. Am nächsten Tag ging sie mit Audinga zusammen ihrer Arbeit nach, wie sie es an jedem anderen Tag auch getan hatte. Sie erhitzten Milch, bis sie gerann, pressten den Quark in einen hölzernen Seiher und nutzten die wässrige Molke, um darin Gemüse einzulegen und es solcherart über den Winter frisch zu halten.
Noch war dieser Winter ein unsteter Gast; er kam zwar manchmal, um an der Tür und am Dach zu rütteln, versteckte sich dann aber wieder vor den letzten schönen Tagen. Mit der Zeit wurden diese seltener, und in der Luft lag der Geruch von Schnee.
Runa deutete auf die Wände aus Lehm und Flechten. »Lass uns das Dach ausbessern!«, schlug sie vor. »Es ist nur mit Reisig bedeckt. Das Reisig wird der Winterwind rasch fortwehen, schweren Torf hingegen nicht.«
Audinga sah sie zweifelnd an und schüttelte den Kopf. Das Vermögen, sich neuen Zeiten anzupassen, schien sich am Pflügen, Sprechen und bei der Gewöhnung an einen neuen Mann verbraucht zu haben - sie wollte nicht auch noch Torf stechen und ein Dach damit bedecken.
Doch Runa sprang auf. »Ich kann es auch allein tun!«, rief sie voller Tatendrang.
»Das ist harte Arbeit«, entgegnete Audinga.
»Sehe ich aus, als würde ich sie scheuen?«
»In jedem Fall siehst du nicht aus, als wärst du zu schwach dazu«, gestand Audinga ein - die erste Bemerkung, die verriet, dass sich Runa in ihren Augen von anderen Frauen unterschied.
Ihre Haare waren gewachsen, aber ihre Gestalt war sehnig wie eh und je, ihre Schultern so breit wie die eines Mannes und die Arme kräftig. Knabenhaft flach war die Brust, an der Arvid ruhte.
»Was du an Kraft zu viel hast, hat deine Gefährtin zu wenig«, stellte Audinga fest. »Gut, dass du das Kind bekommen hast, nicht sie.«
Runa blickte die Bäuerin verwirrt an. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass Audinga glauben könnte, sie habe Arvid geboren und nicht Gisla. Gisla war es doch, die immer noch an den Folgen der Geburt litt. Allerdings war meist sie es, nicht Gisla, die Arvid herumtrug und versorgte.
Runa stritt es nicht ab. »Gisla ist keine ... gewöhnliche Frau«, setzte sie zögerlich an. »Sie wurde nicht als Tochter eines Bauern geboren, sondern ...«
Sie brach ab, wollte nicht zu viel verraten, nur gerade genug, dass Audinga verstand, warum Gisla nicht so viel arbeiten konnte wie sie.
Doch Audingas Worte waren nicht vorwurfsvoll gemeint. »Das habe ich mir gedacht«, meinte sie, um schließlich nachdenklich hinzuzufügen: »Sie ist keine Bäuerin, sondern eine Nonne, nicht wahr? Die Barbaren aus dem Norden haben die Klöster zerstört. Dass sie aus Stein gebaut sind, konnte sie nicht davon abhalten.« Zum ersten Mal verriet sie, dass sie einst in einer Welt gelebt hatte, in der es
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