Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
- und kreisrund rasiert.
»Er muss ein Mönch sein! Oder zumindest ein Novize!«, rief die Äbtissin, voreiliger, als ihr zu reden und zu entscheiden zu eigen war.
Bekräftigend nickte Mathilda, doch sie konnte ebenso wenig wie die Äbtissin erklären, warum der Verletzte zwar die Tonsur eines Klerikers, aber nicht dessen Kleidung trug. Diese glich der eines Bauern - leinerne geflickte und nun blutbesudelte Hosen, raue Strümpfe und stramm sitzende Beintücher, die an den Unterschenkeln mit Binden verschnürt waren. Ein Marderfell war unterhalb des Halses mit einer glanzlosen Nadel zusammengehalten, die Taschen am Gürtel aus brüchigem Leder gefertigt, die Sohle des Schuhwerks durchlöchert. Bevor er vor der Pforte Saint-Ambrose' zusammengebrochen war, musste er stundenlang gelaufen sein.
Die Äbtissin seufzte und sehnte sich insgeheim nach der Stille in der Kapelle.
»Denkt Ihr, er war auf der Flucht vor ... vor ... vor ...«, setzte Schwester Mathilda an und geriet ins Stottern.
Die wenigen Jahre ihres noch kurzen Lebens hatte sie im Kloster zugebracht, an dessen Pforte sie einst als Kleinkind abgegeben worden war. Doch wenn die Welt ihr auch fremd war, so war sie nicht taub für die Geschichten über mordende Männer, die aus fernen heidnischen Ländern kamen, über viele Jahre das Frankenland heimgesucht hatten und Nordmänner genannt wurden. Viele von ihnen waren in dem Landstrich längst heimisch geworden, tüchtige Bauern und gläubige Christen, doch in der benachbarten Bretagne, so hieß es, tummelten sich gewalttätige Banden, die Klöster überfielen und sich mit ihrer Beute in den Höhlen der rauen Klippen versteckten.
»Wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen«, erklärte die Äbtissin gleichmütiger, als ihr zumute war.
Mathilda ließ sich nicht beruhigen. »Wenn er vor Nordmännern geflohen ist, werden sie womöglich bald hier vor dem Kloster stehen!«, rief sie aufgeregt.
»Es herrscht seit vielen Jahren Frieden zwischen den Nordmännern und dem Frankenreich«, gab die Äbtissin streng zurück. »Wer wüsste es besser als ich? Zeigst du deine Angst und Verzagtheit so deutlich, öffnest du deine Seele dem Teufel, und der wartet nur darauf, dass dein Gottvertrauen wankt.«
Was sie dem Mädchen verschwieg, war, dass sie selbst Angst hatte - weniger vor wilden Nordmännern als davor, etwas falsch zu machen. Wenn sie noch lange auf die Krankenschwester warten mussten, würde der Mann verbluten.
Obwohl eine Überwindung, kniete die Äbtissin sich schließlich seufzend auf den kalten Boden. Sie vermied zwar, die Haut des Fremden zu berühren - die vielleicht noch erhitzt war vom schnellen Laufen, vielleicht auch schon vom eisigen Hauch des nahen Todes erkaltet -, aber zog vorsichtig an dem zerrissenen Hemd. Begleitet von einem neuerlichen Blutschwall löste es sich und gab den Blick auf die klaffende Wunde in ihrer Gänze frei.
Ein Schrei ertönte, schrill und lang. Kurz glaubte die Äbtissin, Mathilda hätte so geschrien; wer, wenn nicht ein weltfremdes Mädchen, könnte derart die Beherrschung verlieren? Aber dann spürte sie, wie ihre Kehle schmerzte und ihre Brust dröhnte. Nein, nicht Mathilda hatte geschrien, Mathilda bekreuzigte sich nur, vom Anblick der Wunde nicht annähernd so verstört wie davon, dass der stets gefassten, ruhigen Äbtissin ein ebenso kläglicher wie entsetzter Laut entfahren war.
Deren Blick war starr auf das Amulett gerichtet, das auf der Brust des Mannes lag, nur wenige Fingerbreit von der Wunde entfernt, eben noch vom Leinen bedeckt. Sie hatte es auf den ersten Blick erkannt.
Er war nicht irgendein Amulett.
Es war ... ihr Amulett.
Die Äbtissin verkrampfte ihre Hände wie zum Gebet und biss sich auf die Lippen, um kein zweites Mal zu schreien.
Das Amulett der Wölfin.
»Wie ist Euch, Mutter Äbtissin?«, fragte Mathilda.
Der Boden schien unter ihren Knien nachzugeben, nicht länger gestampfter Lehm, sondern ein Morast der Vergangenheit. Und das niedrige, heimelige Dach - es bot nicht länger Schutz vor der feindlichen Welt, sondern schien auf sie zu fallen und sie zu begraben, erdrückend wie die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen.
»Mutter Äbtissin?«, fragte Mathilda wieder.
Sämtliche Kraft hatte sich im Schrei erschöpft - nun fehlte diese, um die verlorene Fassung wiederzugewinnen und vor Mathilda die Wahrheit zu verbergen.
»Ich ... ich glaube, ich kenne diesen Mann«, stammelte die Äbtissin. »Ich denke, ich weiß, wer er
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