Tod am Zollhaus
sie auf die Lehne.
«Wann kommen unsere Gäste?»
«In zwei Stunden. Du solltest noch etwas ruhen, Claes.»
Sein Blick ging starr aus dem Fenster über das Fleet, aber Augusta war nicht sicher, ob seine Augen den Ewer und die Lastkarren draußen sahen.
«Augusta? Hatte Joachim recht?»
«Recht? Womit? Was meinst du, Claes?»
«Hatte er recht, als er sagte, Maria habe ihn geliebt?»
«Nein, Claes, ganz sicher nicht!» Sie hoffte inständig, dass er ihr glaubte. «Das ist Unsinn, und du weißt es. Joachim war wahnsinnig. Er hat in einer Welt gelebt, die es nicht gibt. Er sah, was er sehen wollte. Du solltest nicht mehr darüber grübeln. Er wollte dich vernichten, lass nicht zu, dass er noch über seinen Tod hinaus dein Leben vergiftet.»
Claes nickte und versuchte zu lächeln. «Du hast recht, doch es ist nicht einfach. Warum habe ich nie gemerkt, wie es um ihn stand? Ich hätte es merken müssen.»
«Vielleicht. Aber er war ein Meister der Verstellung. Niemand hat etwas bemerkt, nicht einmal seine Frau. Du verlangst zu viel von dir, Claes, dich trifft keine Schuld.»
«An manchen Tagen glaube ich, dass ich beginne zu vergessen. Aber dann, ganz plötzlich, überschwemmen mich die Bilder wie eine große Flut. Dann sehe ich ihn wieder da stehen, mit diesem fremden, verzerrten Gesicht, die Lunte in der einen, die schwankende Laterne in der anderen Hand. Ich höre wieder sein furchtbares Lachen, und es verwandelt sich in einen Schrei, diesen letzten entsetzlichen Schrei. Und alles vermischt sich mit dem Feuer vor drei Jahren. Mit Marias Tod. Ich habe es nicht gesehen. Als ich aus Amsterdam zurückkam, war das Gartenhaus zerstört, und Maria hatte schon ein Grab. Aber mir ist jetzt, als wäre ich dabeigewesen, bei allem, was geschah, ich sehe Maria, das Feuer, ich höre sie schreien …»
Er stöhnte auf, und Tränen rannen über sein Gesicht. Augusta hatte ihn niemals weinen sehen. Selbst den Schmerz und das Entsetzen über Marias Tod hatte er allein getragen. Sie hörte sein Schluchzen, sah seine zitternden Schultern und schloss ihn fest in ihre Arme, wiegte ihn wie ein Kind, murmelte sanfte Worte und weinte mit ihm.
«Verzeih, Augusta», flüsterte er schließlich, «verzeih mir.»
«Es gibt nichts zu verzeihen. Du hast zu viele Gründe, um zu weinen.»
«Es tut gut.» Er lächelte mit roten Augen, schüchtern wie ein Knabe. «Ich habe nie gedacht, dass es guttun könnte.»
Er nahm eines der Mundtücher vom Tisch, presste sein Gesicht in das kühle Leinen, und dann schnäuzte er sich kräftig.
Augusta holte die Branntweinkaraffe aus der Anrichte und füllte zwei Gläser. «Trink», sagte sie, «das tut auch gut. Manchmal.»
Er leerte sein Glas in einem Zug und lehnte sich erschöpft zurück. «Ich verstehe so vieles nicht. Vor allem kann ich nicht begreifen, woher er Marias Bild hatte. Es ist in dem Gartenhaus verbrannt. Für ein paar Tage war ich sicher, dass er auch das Feuer im Gartenhaus gelegt hat, dass auch Maria zu seinen Opfern gehört. Er hat sie vernichtet und ihr Bild gerettet. Aber das ist unmöglich, er kam erst nach dem Brand nach Hamburg zurück. Wenige Tage nur, aber dennoch …»
«Vielleicht war das Bild eine Kopie. Wenn er Maria von Anfang an liebte, hat er vielleicht einen Kopisten beauftragt. Wir hatten so viele Gäste, vielleicht war einer dabei, der sich darauf verstand und für genug Geld bereit war, heimlich Marias Bild nachzumalen. Sonnin soll sich einmal umhören. Er kennt alle Maler in der Stadt.»
«Das ist eine gute Idee. Ich werde ihn nach dem Essen darum bitten.»
Aber Claes glaubte nicht daran. Den kostbaren Rahmen konnte niemand kopieren. Sogar die kleine Unregelmäßigkeit im Muster an der unteren linken Ecke war da. Er erinnerte sich genau daran, wie er mit Maria deswegen gestritten hatte. Er hatte den Fehler gleich entdeckt, als der Rahmen geliefert wurde, und wollte ihn zurückschicken. Aber Maria bestand darauf, ihn zu behalten, wie er war. Die kleine Unregelmäßigkeit mache ihn erst besonders, beharrte sie. So wie ein Mensch erst durch kleine Unberechenbarkeiten ganz er selbst werde.
Von der Diele klangen Stimmen, eilige Schritte kamen die Treppe herauf, und schon stand Sophie an der Tür. Mit ihren strahlenden Augen und rosigen Wangen erinnerte sie nur noch wenig an die blasse junge Frau, die Stunde um Stunde still an Martins Krankenlager gewacht hatte. Ihr schlüsselblumengelbes Kleid aus duftigem Musselin tanzte fröhlich mit ihren schnellen Schritten.
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