Tod an der Ruhr
der Gutehoffnungshütte, das Haus des Hüttendirektors Louis Haniel am Markt, der Bahnhof und – als einzige der Sterkrader Wirtschaften – das Gasthaus »Zum dicken Klumpen«.
Entweder war der Zeichner nicht fertig geworden, oder die Karte war für jemanden angefertigt worden, der sich ein Bild vom Dorf zwischen Hütte und Bahnhof, zwischen Hagelkreuz und Steinbrink machen wollte, sich aber für Bäche und Hügel, für die außerhalb liegenden Höfe und für die Gebäude am Rande des Ortes nicht interessierte.
Grottkamp fragte sich, wie Terfurth in den Besitz der Karte gekommen war, vor allem aber, warum er sie bei sich getragen hatte.
Gähnend wurde ihm nach einer Weile klar, dass er in dieser Nacht keine Antworten mehr finden würde. Er legte die Zeichnung zu seinen Papieren in die Schublade des Büfetts – und betrachtete noch einmal kopfschüttelnd das Bild des nackten Mädchens.
Als er wieder in seinem Bett lag, beschlich ihn zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, es könnte ein Fehler gewesen sein, dass er sich nach seiner Enttäuschung mit Liesken nie mehr nach einer Braut umgeschaut hatte.
Mit dem tröstlichen Gedanken, dass ein Mann in seiner Stellung einen solchen Fehler auch mit Anfang Vierzig noch korrigieren konnte, schlief er endlich ein.
FÜNF
Jacob Möllenbeck litt unter seiner Ohnmacht. Er war nicht Heildiener geworden, um den Menschen beim Sterben zuzusehen, sondern um ihnen zu helfen.
Doch wie half man einem Cholerakranken?
Sicher, man wusste inzwischen einiges über die asiatische Cholera. Ursprünglich von Indien kommend, war sie schon zweimal, nämlich 1831 und 1849, als todbringende Seuche durch das Königreich Preußen gezogen, und auch in den fünfziger Jahren war sie in verschiedenen Regionen immer wieder ausgebrochen.
Die Betroffenen litten zunächst an heftigen Durchfällen, die in der zweiten Phase der Erkrankung eine wässrige und geruchlose Beschaffenheit annahmen. Diese sogenannten Reiswasserstühle wurden häufig von stürmischem Erbrechen begleitet. Heftige Durstgefühle, Mattigkeit und Hinfälligkeit sowie krampfhafte Zusammenziehungen der Wadenmuskeln quälten in diesem Stadium die Erkrankten.
Bei günstigem Verlauf wurden die Ausleerungen irgendwann geringer, und der Zustand der Kranken besserte sich ganz allmählich. In ungünstigen Fällen führten die nicht enden wollenden, wässrigen Durchfälle zu einem erschreckenden Kräfteverlust, der – manchmal schon nach Stunden – das Aussehen der Leidenden furchtbar veränderte: Ihr Antlitz fiel ein und wurde hohläugig, Gesicht und Hände verfärbten sich bläulich, der Puls ließ nach, und die ganze Körperoberfläche fühlte sich kalt an, wie die eines Leichnams. In dieser Phase der Cholera, dem Kältestadium, zeigten die Kranken sich erstaunlich gleichgültig gegenüber der Gefahr des drohenden Todes, der oft innerhalb weniger Stunden eintrat.
Wer das Kältestadium überlebte und das sogenannte Stadium der Reaktion erreichte, in dem Durchfall und Erbrechen nachließen und der Puls allmählich wieder wahrnehmbar wurde, konnte darauf hoffen, langsam zu Kräften zu kommen und nach einer langwierigen Genesungsphase wieder gesund zu werden.
Ärzte und Heildiener konnten nicht viel mehr tun, als die Hoffnung auf Besserung mit den Kranken zu teilen. Doch das war Jacob Möllenbeck zu wenig.
Das Gefühl, der Cholera hilflos ausgeliefert zu sein, quälte ihn. Diese Qual war heute, da er für seine Kranken verantwortlich war, noch um vieles größer als vor siebzehn Jahren, als er zum ersten Mal dieser verdammten Krankheit begegnet war.
Damals war er als junger Sanitätssoldat in Köln stationiert gewesen, während die Seuche die Stadt heimgesucht hatte. Ohne zu zögern, hatte er sich freiwillig zum Dienst im Choleralazarett gemeldet. Er wollte lernen – und er lernte viel im Jahre 1849 in Köln.
Alles, was über die Entstehung der Seuche, über ihren Verlauf und ihre Bekämpfung bekannt war, bekam er mit, doch er erkannte damals vor allem, dass es wenig war, unsäglich wenig, was die Ärzte über die Cholera wussten.
Die Bewohner der Domstadt glaubten seinerzeit, dass faule Dämpfe aus Tierkadavern, menschlichen Ausscheidungen und Leichen in die Lüfte stiegen und in die Menschen eindrangen. Jeden konnte der unheilvolle Hauch der Cholera anwehen. Die Kölner standen der Seuche, ihrem dramatischen Verlauf und dem würdelosen Tod im Choleralazarett hilflos gegenüber.
Nicht minder hilflos waren die Ärzte. Über
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