Tod an der Ruhr
Schnecken geflochtene, dichte Haar und das Gesicht, dieses Mädchengesicht, in dem Martin Grottkamp die erwartete Koketterie vergeblich suchte. Stattdessen fand er darin ein schüchternes, trauriges Lächeln, das seine Sinne vollends verwirrte.
Noch nie hatte er den unbekleideten Leib einer Frau gesehen, nicht einmal den der Hure, die er als Soldat in Köln besucht hatte. Sie hatte eilig ihre Röcke hochgerafft, und er war eilig in sie eingedrungen – vor seinen Augen ihr teilnahmsloses Gesicht.
Das war damals, kurz nachdem er von Elisabeths Heirat mit Julius Terfurth erfahren hatte. Er hatte nicht an Liesken gedacht, während er es mit der Lohnhure machte. So hatte es ihm nicht wehgetan, aber gefallen hatte es ihm auch nicht.
Erst Jahre später hatte er die Lust verspürt, es noch einmal zu versuchen. Aber mehrere seiner Kameraden waren zu der Zeit an der Syphilis erkrankt. Das hatte es ihm leicht gemacht, seine Gelüste zu unterdrücken und sich von den Hurenstraßen der Domstadt fernzuhalten.
Gewusst hatte Grottkamp schon, dass es solche fotografischen Darstellungen von Weibspersonen gab, gesehen jedoch hatte er so etwas noch nie. Es war ihm unbegreiflich, dass Elisabeths Gemahl – ein Christenmensch, soweit er wusste – ein solches Bild bei sich getragen hatte.
Das Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten untersagte den Besitz unzüchtiger Schriften und Abbildungen zwar nicht ausdrücklich, aber es verbot bei Androhung einer Gefängnisstrafe, solche Darstellungen zu verkaufen, zu verteilen, zu verbreiten oder sie auf irgendeine Weise dem Publikum zugänglich zu machen.
Grottkamp versuchte, die vor ihm auf dem Tisch liegende nackte Frau rein dienstlich zu betrachten. Wer auch immer Julius Terfurth diese Fotografie überlassen hatte, der hatte sich strafbar gemacht. Daran gab es keinen Zweifel.
Allerdings war auch klar, dass er keinem Menschen, am wenigsten Elisabeth, ein solches Bild unter die Nase halten konnte, um zu fragen, wie Terfurth in seinen Besitz gekommen sein könnte. Es schien ihm ratsam, das Corpus Delicti zunächst einmal unter Verschluss zu nehmen.
Julius Terfurth war tot. Die Sterkrader würden sich ohne Frage noch eine Weile die Mäuler zerreißen über diesen haltlosen Mann, der besoffen in einer Wasserpfütze ertrunken war. Was würden die Leute erst sagen, wenn sie wüssten, dass der sterbende Hammerschmied die unzüchtige Abbildung einer Frauenperson bei sich getragen hatte?
Diese Schmach wollte Martin Grottkamp Elisabeth und ihren Kindern ersparen. Von ihm, so beschloss er, sollte niemand erfahren, was er in Terfurths Rocktasche gefunden hatte. Solange seine polizeilichen Nachforschungen ihn nicht dazu zwangen, wollte er keinen Menschen mit diesem Schmutz behelligen.
Grottkamp legte die Fotografie zuunterst in die Lade seines Büfetts, in der er alle seine wichtigen Dokumente und Schriftstücke aufbewahrte.
Dann ging er zurück zum Tisch und faltete das Blatt auseinander, in dem das Bild gesteckt hatte. Auf den ersten Blick erkannte er nur gezeichnete Linien und Punkte, doch als er die Zeichnung ans Licht der Kerze hielt, wurde ihm schnell klar, dass es sich um eine Karte des Dorfes Sterkrade handelte. Die unterschiedlich dicken, eckigen Punkte waren Gebäude, die Linien stellten Straßen und Wege dar.
Die Ortskarte war nicht mit Tusche, sondern mit einem Grafitstift gezeichnet, so dass die Feuchtigkeit das Blatt zwar gewellt, aber die Zeichnung nicht ausgewaschen hatte.
Grottkamp erkannte rechts auf der Karte die Hüttengebäude, weiter zur Mitte hin Marktplatz, Clemenskirche und Friedhof und links den Bahnhof mit der Eisenbahnlinie. Oberhalb des Hagelkreuzes, an der Holtener Straße, war die Zeichnung abgeschnitten. Der Aisbach und der Grottkamphof waren nicht mehr auf ihr zu finden.
Er bemerkte schnell, dass die Karte flüchtig und ungenau gezeichnet war. Einige Straßen verliefen ins Nichts, viele Gebäude fehlten, sogar die Kirche der Evangelischen, die schon seit gut zehn Jahren am Steinbrink stand. Lediglich im Bereich der Dorfmitte, rings um Marktplatz und Clemenskirche, war die Karte sorgfältig ausgearbeitet. Grottkamp fand das Haus der Witwe Schlagedorn in der Friedhofsgasse, auch das von Carl Overberg in der Bahnhofstraße.
Vergeblich suchte er jedoch die beiden Bäche, die durch das Dorf flossen, den Reinersbach und den Elpenbach, den die Sterkrader Mühlenbach nannten.
Mit geübter Schrift waren einige Straßen und Gebäude bezeichnet, die Werkstätten
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